Lennard wählte Sune zum Freund, weil er jemanden brauchte, der ihm die Rüpel vom Leib hielt, die geheime Welt der Mädchen eröffnete und an den schulfreien Nachmittagen Orte zeigte, die auf Lennards Karte weiße Flecken waren. Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendwer sein Freund sein wollte, verlangte er alle paar Wochen eine Art Treueschwur, und einmal musste Sune sich Lennards Initialen mit einem Taschenmesser in die Handfläche ritzen, bevor er sein Wurstbrot und den Apfel bekam. Sune hatte nichts gegen diese Beweisrituale, solange er nicht mit leerem Bauch im Unterricht saß. An das kurz aufblitzende Gefühl von Scham, das ihn beim Verschlingen von Lennards Essen befiel, hatte er sich schon lange gewöhnt. Diese kleine Erniedrigung war besser, als den Spott der Mitschüler zu ertragen, wenn er das Klassenzimmer mit den gurgelnden Geräuschen seines unterbeschäftigten Magens füllte.
Sein Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann, der als Gehilfe des Dorfschmieds gearbeitet hatte. Nach dessen Tod fuhr ein neuer Schmied aus Karlskoga mit seinem Lieferwagen zu den Höfen, und Sunes Vater nahm Aushilfsarbeiten an, die nie lange dauerten. Die Leute legten ihm sein Schweigen als Unfreundlichkeit aus, und als jemand das Gerücht verbreitete, er sei ein Wilderer und Dieb, der den Bauern neugeborene Lämmer von der Weide holte, wollte ihn niemand mehr beschäftigen. Er begann aus Holz Figuren zu schnitzen, Einhörner und Waldwesen, gebückte Trolle, denen er ein Stückchen Katzengold in die Hände legte, und Gnome mit Spitzhüten, die einen Kessel voll lackierter Flusssteinchen umschlangen. Oft saß er tagelang im Schuppen neben dem Haus und verließ ihn nur, um mit dem Bus nach Örebro zu fahren, wo er sein Monatswerk an einen Laden verkaufte.
Sunes Mutter hatte Heimweh nach Finnland, woher sie stammte, und jedes Jahr an ihrem Geburtstag stand sie mit zwei gepackten Koffern im Hausflur, schwankend unter dem Einfluss von Alkohol, Schuldgefühlen und einer verbrauchten Euphorie, die in ihr schwelte wie die Reste eines sich selbst überlassenen Feuers. Nachdem sie mehrere Stunden lang geweint und die Tür angestarrt hatte, als würde diese sich gleich öffnen und ihr Vater sie bei der Hand nehmen und nach Hause führen, ging sie ins Schlafzimmer, räumte ihre Sachen zurück in den Schrank, legte sich aufs Bett und verschlief ein weiteres Jahr.
Henrik, einer von Lennards Onkeln mütterlicherseits, lebte seit fast zwanzig Jahren in Philadelphia, wo er und seine Frau Katarina mit einer Reinigungsfirma zu beträchtlichem Wohlstand gekommen waren. Weil die beiden keine eigenen Kinder haben konnten, behandelten sie Lennard, den sie während eines Heimatbesuchs als Dreijährigen gesehen hatten, wie ihren Sohn, und an seinem achtzehnten Geburtstag luden sie ihn ein, sie zu besuchen. Damals arbeitete Lennard seit zwei Jahren im elterlichen Geschäft, das er einmal übernehmen sollte, und Sune half im Lager aus, erledigte Botengänge und kehrte jeden Feierabend den Boden des Ladens und den Gehsteig davor.
Lennards Eltern fanden keinen Gefallen an der Idee, ihren Sohn in ein Land reisen zu lassen, das so weit weg lag, sich in einem Krieg befand und außerdem Keimzelle der verstörenden Musik war, die manchmal aus Sunes Transistorradio durch die Tür des Lagerraums drang. Aber Lennard ließ sich die Möglichkeit, der Enge Noras und der Ereignislosigkeit Västmanlands zu entfliehen, nicht entgehen, und er nahm das Geld des Onkels, kaufte damit statt eines Flugtickets zwei Karten für eine Überfahrt auf dem Schiff und schleppte Sune mit wie ein schweres Stück Gepäck.
Philadelphia war riesig, laut und schmutzig, und es war großartig in den Augen der beiden Jungen vom Land, die sich in der Stadt bewegten wie Astronauten auf einem fremden Stern. Lennard, dessen Entschluss, in Amerika zu bleiben, bereits nach wenigen Wochen feststand, ließ sich von Onkel Henrik in die wunderbare Welt der Buchhaltung einführen, während Sune mit einem der fünf Putztrupps loszog, um Büroböden zu polieren und von Schaufenstern in der Innenstadt schwarzen Ruß zu waschen. In seiner Freizeit fuhr Lennard mit Onkel Henrik und Tante Katarina im silbernen Lincoln durch die Stadt, ging mit ihnen ins Planetarium, in Museen und an historische Orte, und mit jeder Sehenswürdigkeit, die ihm mit schwedisch-amerikanischem Stolz vorgeführt wurde, schwanden seine Erinnerung an die alte Heimat und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.
In langen Briefen nach Hause pries er Philadelphia und sein neues Leben mit Worten, die seine Eltern im Lexikon nachschlagen mussten, um sie zu verstehen. Am Telefon malte er die Bilder der kommenden Jahre so fiebrig, dass sein Vater die Bemühungen, ihn für die Weiterführung des Eisenwarenladens zu gewinnen, bald aufgab. Seine Mutter hielt die Hoffnung noch eine Weile aufrecht, aber wenn ihr Sohn vom baldigen Kauf eines gebrauchten Wagens oder der geplanten Beantragung einer Arbeitserlaubnis erzählte, wurde auch sie stumm und brach nach dem Auflegen in Tränen aus.
Es dauerte ein halbes Jahr, bis seine Eltern Lennards Entscheidung als unwiderruflich akzeptierten, und auch dann fehlte ihnen das Verständnis, sie zu billigen. In ihren Augen hatte sich ihr Sohn des Verrats schuldig gemacht. Aus einer jugendlichen Laune heraus und aufgewiegelt von rebellischer Musik, kehrte er der Familie den Rücken und gab eine gesicherte Zukunft in der Heimat auf, um fernab seiner Wurzeln fragwürdigen Träumen nachzujagen. Sie waren so enttäuscht und verbittert, dass sie die Briefe aus Philadelphia weder lasen noch beantworteten und bei den immer spärlicher werdenden Anrufen ihres Sohnes nur noch einsilbig bestätigten, am Leben zu sein. Schließlich legten sie wortlos auf, wenn Lennard sich meldete. Ihr einziger Sohn war für sie gestorben, ebenso Henrik und Katarina, die an allem die Schuld trugen.
Sune, der mietfrei über der Garage neben dem Haus wohnte, lebte sein eigenes Leben. Nach der Arbeit trank er bisweilen ein Bier mit den Kollegen, von denen alle, bis auf zwei schwermütige Brüder aus Iowa, mexikanische Einwanderer waren. Bei schönem Wetter setzte er sich an den Abenden in einen Park und sah den Softballspielen zu, einer familientauglichen Version von Baseball, deren Regeln für ihn so rätselhaft waren wie die des Originals. An den Wochenenden kam es gelegentlich vor, dass er und Lennard gemeinsam etwas unternahmen, im Bus und in der U-Bahn herumfuhren, ins Kino gingen oder in eine der Bars, wo man Frauen, die sich auf der Bühne auszogen, Dollarnoten ins Höschen stecken konnte. Sie sahen sich die Villen reicher Leute an, saßen an verregneten Nachmittagen in Dauervorstellungen alter Filme, witzelten verlegen über die künstlichen Brüste der Stripperinnen, waren nach drei Gläsern Bier betrunken und redeten von der Zukunft und Musik und Autos, wurden an der Luft wieder nüchtern und gingen schweigend nebeneinander her und merkten, dass sie sich allmählich aus den Augen verloren und keiner von ihnen die Energie aufzubringen bereit war, diesen Prozess anzuhalten.
Sune war nicht mehr von Lennard abhängig, er verdiente genug, um den kleinen Kühlschrank unter dem Garagendach zu füllen und in einem Billiglokal an einem Abend mehr zu essen, als seine Mutter ihm in einem ganzen Monat gekocht hatte. In Schweden hatte die beiden Kinder ein Bündnis zusammengehalten, das auf dem Tausch von Essen gegen Schutz und Ausflüge in unbekannte Welten beruhte, doch hier war alles anders, und ihnen wurde immer stärker bewusst, dass eigentlich nichts sie verband, nicht einmal Freundschaft.
Kein Jahr nach seiner Ankunft in Amerika wurde Sune während der Arbeit in einem Fitnesscenter verhaftet. Er wischte gerade den Boden in einem der Umkleideräume, als die Männer der Einwanderungsbehörde hereinstürmten wie Schuljungs nach der Turnstunde. In der Abschiebehaft durfte er einen Anruf tätigen und rief Lennard an, weil ihm sonst niemand einfiel. Lennard wollte seinen Onkel dazu bringen, einen Anwalt einzuschalten, aber Sune redete es ihm aus, wünschte ihm viel Glück und legte auf. Am folgenden Tag wurde er in eine Maschine gesetzt, die ihn nach New York brachte, dann in eine mit dem Ziel Stockholm. Sune war über seine Abschiebung nicht unglücklich. Er hatte nie vorgehabt, in Amerika zu bleiben, und in manchen Nächten, während derer er schlaflos in seinem Bett lag und unter ihm der abkühlende Motor des Lincoln knackte, dachte er an Nora und vermisste es. Er hatte Sehnsucht nach den endlosen Feldern, der Stille, die nur vom Schlagen der Kirchturmglocken gestört wurde, nach den Seen, die in seinen Kindertagen Meere gewesen und später zu langweiligen Tümpeln verkommen waren, und er hatte sogar Sehnsucht nach seinen Eltern. Seine Mutter lebte inzwischen wieder in Finnland. Ihr Vater, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte, war einen Monat nach Sunes Abreise gestorben, und sie war von der Beerdigung nicht zurückgekehrt.
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