Nach einer Weile geht ein Schlag durch ihn hindurch, sein Kopf wackelt auf dem dünnen Hals, der Blick sucht die eigenen Hände. Er erhebt sich und verfällt in Geschäftigkeit, kocht Tee oder faltet ein Handtuch zusammen, lächelnd, als sei ihm seine Seelenqual peinlich. Dabei redet er atemlos von Spaziergängen im Park, von Büchern und Tauben. Den Tauben, die er füttert und die ich Randolphs Anweisungen zufolge vergiften soll.
Ich lege mich auf das Bett und breite den Mantel über mir aus. Meine Haare sind trocken. Ich hätte gerne meinen Koffer bei mir, meine paar Dinge, die ich schon so lange mit mir herumgeschleppt habe. Die Aufnahme von Orla in Sligo, die beiden Fotos meiner Mutter, den reitenden Indianer, Colms Nashorn, die Briefe. Ich frage mich, was Vermeer damit macht. Ohne meinen Pass bin ich aufgeschmissen. Ich kann weder den Scheck einlösen noch das Land verlassen. Im National Geographic habe ich einen Artikel über einen Ort in Mexiko gelesen, in dessen Bucht Wale ihre Jungen zur Welt bringen. Touristen fahren da hin, um sich die Tiere anzusehen. Dort würde ich bestimmt einen Job finden. Das Leben wäre billig, ich könnte eine Weile bleiben und warten, bis etwas passiert, das mich vertreibt. Dann würde ich noch tiefer in den Süden fahren. Guatemala. Honduras. Ich könnte hinunter bis nach Chile, bis es nicht mehr weitergeht. Aber ohne Pass kann ich nicht weg.
Ich habe mir schon überlegt, in die Stadt der Selbstmörder zurückzugehen, um meine Sachen abzuholen, aber dann denke ich an Vermeer, den ich im Stich gelassen habe, und vergesse es. Die Vorstellung, vielleicht Aimee zu begegnen, ist ein weiterer Grund, nicht zu gehen, ganz zu schweigen von Elroy und den anderen Nervensägen. Nachts vermisse ich manchmal Melvins Gemurmel, aber am Morgen bin ich immer froh, mir das Gequatsche im Speisesaal nicht anhören zu müssen. Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich schriftlich darum bitten, dass man mir meine Sachen ins Hotel schickt. Ich werde Vermeer ein paar Zeilen schreiben und den Scheck beilegen, den ich ohne Ausweis sowieso nicht einlösen kann. Eintausend Dollar gegen eine Handvoll Erinnerungen in einem schäbigen Koffer. Ein fairer Tausch, finde ich.
Weil ich nicht schlafen kann, weil mir kalt ist und ich nur in Träumen versinke, aus denen ich nach kurzer Zeit aufschrecke, gehe ich hinunter in die Lobby. Leonidas sitzt hinter der Theke und schreibt. Er ist der Nachtportier. Er ist etwa halb so alt wie Randolph, um die dreißig, sieht aber jünger aus. Er trinkt und raucht nicht, und er rennt jeden Tag fünf Meilen, bei jedem Wetter. Sein Job lässt ihm viele Freiheiten, und wenn er sich nicht gerade mit einem der Dauermieter herumschlägt oder einen neuen Gast abfertigt, schreibt er Briefe an seine Familie in Griechenland. Und Theaterstücke, Tragödien. Er hat mir drei davon vorgelesen. In den Stücken geht es vor allem um Liebe und Verrat und Tod. Leonidas hat mich gefragt, warum kein Theater an seinen Stücken interessiert sei. Ich habe ihm gesagt, das sei vielleicht so, weil in seinen Stücken ziemlich viel gestorben werde. Er meinte, im richtigen Leben würde doch auch dauernd jemand sterben. Wer, wenn nicht ich, musste ihm da recht geben?
Heute schreibt er nur Briefe. Er will ein Foto von mir machen, und ich stelle mich vor die Wand, an der die Hausordnung und ein Feuerlöscher hängen. Leonidas’ Mutter will von allen Menschen, mit denen ihr Sohn privat und beruflich zu tun hat, Fotos. Sie sieht sich die Bilder an und teilt ihrem Sohn dann mit, ob er den Leuten trauen kann oder sie meiden soll. Leonidas hat eine Digitalkamera und ein Notebook, mit dem er die Bilder über das Internet verschickt. Er erwähnt nichts vom Auswahlverfahren seiner Mutter, das weiß ich von Enrique, einem Stammgast, der durchgefallen ist und von Leonidas seither höflich, aber zurückhaltend behandelt wird.
Enrique und Alfred sitzen in den abgewetzten Möbeln unter dem Kronleuchter und spielen Domino. Enrique ist Exilkubaner und ohne seine Brille blind, Alfred ein Vertreter für Klimageräte, der hier ein Zimmer nimmt, wenn er in New York zu tun hat, was die meiste Zeit des Jahres der Fall ist. Enrique ist Mitte fünfzig, Alfred vielleicht zehn Jahre älter, und beide trinken wie die Fische. Gestern wollten sie mich losschicken, um ein paar Flaschen Wein zu besorgen, und als ich ihnen sagte, ich sei hier das Mädchen für vieles, aber nicht alles, und außerdem verbiete die Hausordnung Alkoholkonsum, waren sie eingeschnappt.
Ich mag das Klicken, das entsteht, wenn Alfred mit den Steinen spielt, und setze mich neben Spencer auf das Sofa. Spencer ist weit über siebzig und hat, seit ich hier bin, noch kein Wort geredet, weder mit mir noch sonst jemandem. Dabei ist er nicht unhöflich, auch jetzt nickt er mir freundlich zu. Er trägt einen hellen Anzug, einen Panamahut mit schwarzem Stoffband und schwarze Schuhe, die immer poliert sind. Leonidas sagt, Spencer sei früher reich gewesen und rede nicht mit jedem. Ich kann Spencer gut leiden, vor allem, weil er keine Kippen auf den Boden schmeißt und mich nie darum bitten würde, mir seine verstopfte Toilette anzusehen.
Manchmal stelle ich mir vor, so alt wie Spencer zu sein. Wir schreiben das Jahr 2050, und das Hotel ist noch heruntergekommener als jetzt, eine Insel in der Zeit. Ich habe das Leben bald hinter mir und verbringe meine restlichen Tage damit, meine drei Hemden und die beiden Anzüge, einen hellen und einen dunklen, zwischen der Reinigung hin- und herzutragen, meine zwei Paar Schuhe zu polieren und die Museen der Stadt zu besuchen. Ich habe ein paar Gebrechen und für jedes eine Tablette in einem praktischen Wochenspender. Jeden Morgen um halb neun Uhr trinke ich in meinem Stammlokal ein Kännchen Tee und lese die Zeitung. Die Kellnerin, etwas jünger als ich und noch immer eine Schönheit, mag mich und bringt mir manchmal ein zweites Croissant, auf Kosten des Hauses. Am Nachmittag widme ich mich meinem Hobby, Philatelie oder Numismatik, vielleicht male ich Aquarelle. Die Wände meines Zimmers sind mit Büchern gefüllt, die alten Griechen, die Russen, dicke Bände, die ich beidhändig aus den Regalen stemmen muss. Ich besitze einen Hut, einen breitkrempigen argentinischen. Die Leute fragen sich, woher ich komme, und erfinden Biografien für mich. Ich sterbe im Schlaf, traumlos. Zu meiner Beerdigung kommt niemand. Die Kellnerin erfährt erst Wochen später von meinem Tod und vertraut einer Freundin an, mich heimlich geliebt zu haben.
Spencer sieht durch ein Fenster auf die Straße hinaus, wo nichts ist, und seine Verlorenheit und Genügsamkeit haben etwas Tröstliches. Seine gefalteten Hände ruhen in Kinnhöhe auf dem Knauf seines Gehstocks, seine Wimpern zittern wie Insektenfühler, und wenn er einatmet, klagt etwas in ihm leise über die Anstrengung. Bevor er sich erhebt, nickt er mir zu, dann geht er zur Treppe und steigt langsam Stufe um Stufe hoch in den dritten Stock, wo am Ende des Flurs sein Zimmer liegt und nichts und niemand ihn erwartet. Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Enrique und Alfred machen sich lustig über mich, weil ich nicht trinke, sind aber heimlich froh, dass ich den angebotenen Schluck Wein ablehne. Leonidas klebt Umschläge zu, ein ganzer Stapel liegt auf der Theke. Ich beneide ihn um all seine Verwandten, die wollen, dass er zurückkommt. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und gehe nach oben, langsam und ohne Erwartung, genau wie Spencer.
Ich sauge den Teppich in der Lobby, und Randolph liest in seinem Sportfischermagazin, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich denke, es ist Mazursky oder Elwood, einer der beiden Stammgäste, die dauernd ankommen und mir ins Ohr brüllen, in ihrem Zimmer tropfe der Wasserhahn oder das Fenster sei undicht. Ich habe ihre ewigen Reklamationen satt und drehe mich so abrupt um, dass Aimee vor mir zurückweicht. Erst als sie mein Gesicht sieht, lacht sie, nur kurz, dann wird sie ernst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie ist verlegen. Ich schalte den Staubsauger aus, der infernalische Lärm verstummt.
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