Dabei sagte Wilbur selten, die Filme seien schlecht. Er konnte nur nichts anfangen mit Drachenjägern und Weltraumrittern, mit singenden Katzen, tanzenden Matrosen und fliegenden Torten. Er fühlte nicht den Liebeskummer des wortkargen Amerikaners in Marokko oder den Trennungsschmerz der Südstaatenschönheit, es kümmerte ihn wenig, ob Herzen gebrochen oder Galaxien zerstört wurden, und bei den Komödien wusste er nie recht, wo man ihn zum Lachen bringen wollte und wo die Geschichte Mitleid mit den Figuren verlangte.
Als das Angebot der Filme für Jugendliche unter sechzehn erschöpft war, fragte Wilbur, ob er sich einen Kriegsfilm ansehen dürfe, und Ari erlaubte es ihm. Wilbur war seit Tagen sein einziger Kunde, und er wusste, dass dem Jungen ein Film wie Die Kanonen von Navarone kaum bleibende seelische Schäden zufügen würde.
Danach sah Wilbur sich alle Kriegsfilme aus Aris umfangreicher Sammlung an, und als es davon keine mehr gab, holte Ari ein paar Krimis aus einer Kiste unter der Treppe hervor, französische Schwarzweißwerke mit Jean Gabin und Lino Ventura, später dann amerikanische Streifen mit James Cagney, Edward G. Robinson und Humphrey Bogart. Wochen später war auch dieser Vorrat erschöpft, und Ari zögerte, den Jungen mit noch mehr Barbarei zu füttern. Wann immer er sich mit Wilbur bei einer Tasse Tee unterhielt, hörte er genau hin, und auch nach zahllosen Filmen, die der Staat mit allen rechtlichen Mitteln von Jugendlichen fernzuhalten versuchte, konnte er bei dem Jungen keine Veränderungen feststellen, die auf eine Verrohung des Charakters deuteten. Er hatte als Kindergärtner heimlich Horror- und Vampirfilme verschlungen und sah keinen Grund, weshalb er seinem vierzehnjährigen Kunden Filme wie Dirty Harry, The French Connection oder Taxi Driver vorenthalten sollte.
Tatsächlich fühlte Wilbur sich bereit. Nur noch vage erinnerte er sich an die Zeit, als er neben Orla im Kino saß und mit den Leinwandhelden fieberte und von Gewehrkugeln, Indianerpfeilen und Laserstrahlen durchlöchert wurde, bis das Tageslicht seine Wunden und heimliche Angst verschwinden ließ und er an der Hand seiner Großmutter in die Wirklichkeit trat. Schon früh hatte er gelernt, Filme als flimmernde Märchenbücher zu sehen, als kolossale Gutenachtgeschichten, die dazu da waren, ihn von der Realität und der Dunkelheit abzulenken. Irgendwann hatte er die mit Blut und Tränen geschmierte Mechanik dieser Bilderreigen durchschaut und ließ sich von ihnen nur noch unterhalten, nicht mehr täuschen. Er hatte es geliebt, Orlas Hand in seiner zu spüren, den Geschmack der Bonbons auf der Zunge und die verlässliche Helligkeit nach der Vorstellung, aber diese Zeit war lange vorbei.
Das einzige, was ihn jetzt noch erreichte, war schiere Gewalt. Männer, deren Leben schreckliche Wendungen nahmen, die in ausweglose Situationen gerieten und zornig oder skrupellos genug waren, um sich ihren Weg freizuschießen. Diese tragischen, brutalen und verzweifelten Gestalten waren es, die ihn berührten und aufwühlten und ihm für die Dauer eines Films vormachten, wie man seine Existenz veränderte, auch wenn man sie dabei vernichtete.
Der Nachschub aus dem Kassettenlager schien unerschöpflich. Jedes Mal wenn Wilbur den Laden betrat, hatte Ari einen neuen Film für ihn. Es machte ihm Spaß, für den kleinen Kenner Reihen zusammenzustel len, ihn mit den Arbeiten eines Regisseurs vertraut zu machen und ihm in chronologischer Folge sämtliche Werke mit Clint Eastwood, Charles Bronson oder Robert De Niro vorzuführen. Oft setzte er sich mit dem Jungen und einer Tasse Tee hin und hielt eine leidenschaftliche Einführung in den Film, mit dem er Wilbur gleich beglücken würde, las aus Fachzeitschriften und Büchern vor, öffnete Sammelordner voller Standbilder, Werbezettel und Autogrammkarten in Klarsichtmappen und entrollte Originalplakate, die nach vergangener, unwirklicher Zeit rochen.
Ari’s Mega Video Store war Wilburs Zweitwelt, ein Paralleluniversum, durch das er in seiner Kapsel aus Phantasie und Verzweiflung glitt, geblendet von Zelluloidgewittern und betäubt vom Donnerhall ferner Explosionen. In dieser Galaxie aus Gesetzlosigkeit und niedrigster Gesinnung zerstieb sein trotz aller Schrecken behütetes Leben zu einer nebligen Erinnerung, und alles, was ihm widerfahren war, trat für eine Weile zurück, und was noch auf ihn lauern mochte, verlor an Bedrohlichkeit.
Eines Tages saß Wilbur in seiner dunklen, schallgedämpften Box und sah endlich Die Hard von Anfang an und ohne Werbeunterbrechungen, und er ließ es geschehen, dass er den Fernseher vergaß und die Eierkartons und die spielenden Kinder über seinem Kopf, dass die Stunden mit Matthew, die Besuche bei Colm und die für immer in ihm aufgehobenen Jahre mit Orla neben einem gewaltigen Feuerschein verblassten und er sich in John McClane verwandelte, der in einem flammenden Hochhaus barfuß über Scherben ging und Leute erschoss.
Es wurde Herbst, bis Wilbur bereit war, zum Haus zu gehen. Er saß auf dem Sofa in Matthew Fitzgeralds Wohnzimmer und spielte ihm etwas vor, das er komponiert hatte. Nach dem letzten Ton fragte er Matthew, ob sie zusammen nach Fanad Head fahren könnten. Matthew hatte einen 61er Triumph Herald , den Agnes ihm geschenkt hatte, als ihre Augen und Nerven zu schwach für den Verkehr in Norwich geworden waren. Das Auto, das Matthew mehr als Erinnerungsstück denn als Fortbewegungsmittel nach Irland mitgenommen hatte, stand etwa fünfhundert Meter weit vom Haus entfernt in einer Scheune, die ihm ein Nachbar als Garage vermietete. Weil Matthew sein Heim kaum verließ und sich Lebensmittel, Briketts und sogar Bücher liefern ließ, stand der Wagen die meiste Zeit des Jahres unter einer Plane zwischen vermoderten Heuballen und Traktorteilen.
Matthew wusste von dem Haus an der Küste und fragte nicht nach Wilburs Gründen, warum er gerade heute dorthin fahren wollte. Das Wetter war gut, seit zwei Tagen hatte es nicht geregnet, und es sah aus, als würde es noch eine Weile so bleiben. Er zog seine klobigen Lederschuhe an, einen Pullover und den leichten Mantel und setzte den Hut auf, den er damals, kaum aus dem Bauch der Fähre gerollt und von Irland mit heftigem Regen empfangen, in einem Souvenirladen außerhalb von Rosslare gekauft hatte.
Der Triumph sprang nach einigen Versuchen an und füllte den Schuppen mit blauschwarzen Abgaswolken. Der Rückwärtsgang knirschte und der erste schleifte, dann rumpelte das caramelfarbene Gefährt über den Feldweg und hörte erst auf der Landstraße auf zu husten und spucken. Matthew fragte, ob er das Radio anmachen solle, aber Wilbur war es lieber, wenn es ausblieb. Autos mit wehenden Fahnen kamen ihnen entgegen, einige Fahrer hupten. Matthew fragte, wer wohl wen worin besiegt hatte, aber natürlich wusste Wilbur es auch nicht. Krähen saßen ruhig in den seit Wochen kahlen Bäumen und warteten darauf, dass ein Kaninchen oder eine Katze vor ein Auto lief. Auf einem Feld brannten abgeholzte Bäume, der Rauch wuchs in der Windstille als gerade Säule in den Himmel. Kinder rannten um das Feuer, ihr Indianergeschrei drang durch den Lärm des Motors.
Als sie in der Nähe des Hauses hielten, schaltete Matthew die Zündung aus. Er löste den Sicherheitsgurt, blieb aber sitzen. Der Wagen knackte und knisterte. Eine Weile sahen sie auf das abgeerntete Feld, das vor ihnen lag. Am Horizont lagen ein paar Wolken auf den Hügeln. Matthew nahm die Brille ab, wischte mit den Gläsern über den Pullover und setzte sie wieder auf. Wilbur starrte auf die eigenen Hände, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.
«Geh nur«, sagte Matthew schließlich und nickte Wilbur zu.
Wilbur zögerte, dann stieg er aus. Er sah den Hof von Colm, winzig stand er zwischen den Wiesen, wie eingesunken ins unbewirtschaftete Land. Vom Meer wehte ein leichter Wind und trug den Geruch von Tang herüber. Keine einzige Möwe flog, kein Schiff unterbrach die Linie des Horizonts. Als Wilbur den Weg hinunterging, wünschte er sich, er hätte Matthew gebeten mitzukommen. Er hielt den Schlüssel in der Hosentasche mit der Faust umklammert, wie er früher den Indianer auf dem Pferd umklammert hatte.
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