Colm Finnerty wurde krank. Die Frauen des Ortes sagten, er leide an der Schwermut, bald würde er das Trinken beginnen. Die Wahrheit war, dass Colm von einer Müdigkeit ergriffen wurde, die ihm an manchen Tagen alle Kraft aus dem Körper nahm. Dann lag er da und hörte die Tiere im Stall, schlug sich mit den Fäusten auf die tauben Beine und humpelte Stunden später zum Vieh, um es zu füttern und auf die Weide zu lassen. Der Arzt kam und untersuchte ihn, und es war nicht Schwermut, die er feststellte, sondern beginnender Muskelschwund.
Nur Wochen später hatte Colm seinen Hof verlassen und war plötzlich einer der Senioren, um die sich Pauline und Henry ehrenamtlich kümmerten. Das Vieh und der Traktor wurden verkauft, nach einem Testament wollte man Colm noch nicht fragen. Henry und zwei weitere Männer des Vereins fuhren in einem Lieferwagen hinaus, um die paar Habseligkeiten, die man Colm zugestand, ins Heim zu schaffen. Wilbur hatte darauf bestanden, beim Umzug zu helfen, und obwohl Pauline dagegen war, nahm Henry ihn mit. Der Lieferwagen war mit DEMPSEY BUTCHERS beschriftet, und Wilbur wurde während der Fahrt so elend, dass der Fahrer zweimal anhalten musste.
Als sie leise wie Diebe das Haus betraten und wortlos durch die Räume streiften, fühlte Wilbur sich noch schrecklicher. Er folgte den Männern, unfähig, etwas zu tun, und sah ihnen zu, wie sie Schranktüren öffneten, Schubladen aufzogen und Gegenstände in die Hand nahmen und abwogen, ob sich ihre Aufbewahrung lohne, wie sie Möbel und Matratzen in den Hof trugen und ein Feuer machten, Bilder abhängten und Teppiche aufrollten und Vorhänge herunternahmen. Während die Männer ihr Unbehagen bald abgelegt hatten und angesichts der Fülle an angesammelten Dingen immer unzimperlicher wurden, kam Wilbur sich schuldig vor, wie ein Mittäter bei der Zerstörung von etwas, dessen Wert übersehen oder missachtet wird. Ein Teil von Colms Leben war zu Plunder geworden, zu lästigem Ballast, der bald als Asche über den leeren Hof wehen würde. Er stellte sich Colm vor, wie er in seinem neuen Zimmer saß und darauf wartete, keine Angst mehr zu haben vor den vier Wänden und dem Geruch nach Reinigungsmitteln und den fremden Geräuschen. Wie er Dinge aus dem Koffer nahm, sie ansah und zurücklegte, statt sie in den Einbauschrank zu räumen. Und wie er sich aufraffte und ans Fenster trat, um auf das gemähte Stück Rasen zu starren, wo keine Kälber Bocksprünge machten und keine Schafe grasten und den Kopf hoben, wenn er mit sanfter Stimme nach ihnen rief.
Während das Feuer loderte, ging Wilbur durch die Scheune und überzeugte sich davon, dass kein Tier darin vergessen worden war. Er nahm eine Handvoll Stroh und steckte es in die Hosentasche. Danach ging er ins Haus, und obwohl Henry meinte, es würde zu lange dauern, wickelte er jede Tonfigur in Zeitungspapier und verstaute sie ebenso in Kisten wie die Bücher.
Stunden später fand er in der Kommode neben dem Bett einen Artikel aus dem Donegal Democrat , der Orlas Streit mit der Erziehungsbehörde zum Inhalt hatte. Ein Schwarzweißfoto zeigte Orla vor der Schule stehend. Sie hatte eine Hand erhoben und war im Begriff, sich abzuwenden, was den vom Reporter beabsichtigten Effekt erzielte, sie unfreundlich und schuldbewusst aussehen zu lassen. Die Artikelüberschrift lautete: SELBSTERNANNTE LEHRERIN GIBT NICHT NACH, und unter dem Bild stand:»Starrköpfig bis in die letzte Instanz: Orla McDermott«.
Wilbur saß auf dem Bettgestell und las den Artikel zweimal hintereinander. Dass er weinte, merkte er erst, als Henry ins Zimmer trat und fragte, was passiert sei. Henry sah den Zeitungsausschnitt, seufzte und setzte sich neben Wilbur. Zuerst wusste er nicht, was er sagen sollte, zupfte Staubflusen von den Ärmeln seiner Strickjacke und sammelte sie in der Faust. Er überlegte lange, wie er den Jungen trösten könnte, dann sagte er, er habe Orla nicht persönlich gekannt, aber sie sei bestimmt eine außergewöhnliche Frau gewesen, auch wenn sie es bei ihrem Feldzug gegen die öffentliche Schule vielleicht ein wenig übertrieben habe. Er klopfte Wilbur auf die Schulter, erst zaghaft, dann fester, und schließlich erhob er sich, meinte, es gebe noch viel zu tun und verließ das Zimmer.
Wilbur wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er saß da und stellte sich vor, wie er mit Colm auf dem Hof leben würde, wie er, statt zur Schule zu gehen, den alten Mann pflegen, für ihn kochen und ihm aus Büchern vorlesen würde. Er malte sich aus, wie er seinen Freund im Wohnzimmer einquartierte, von wo aus man auf eine der Weiden sehen konnte, wie er lernte, Traktor zu fahren und Kühe zu melken und Zäune zu flicken. Die Augen geschlossen, sah er sich mit Colm in der Sonne sitzen und Schafe zählen, sah die Jahre vergehen und hatte eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn er in weiter Zukunft neben Colm liegen und ihn so fest umarmen und festhalten würde, dass der ihn mit in den Himmel nähme wie ein Schiff einen blinden Passagier.
In einem Nebenzimmer ließ einer der Männer etwas fallen, das zerbrach. Wilbur schreckte aus seinem Traum hoch, holte ein paar Mal tief Luft, faltete den Artikel zusammen und legte ihn zu den anderen Dingen, die er für Colm vor dem Feuer bewahrte.
Sie brachten Colm einen Sessel, eine kleine Kommode, zwei gerahmte Bilder und die Kisten mit den Büchern und den Tonfiguren. Die Leiterin des Altersheims, eine dünne Frau um die vierzig, die freundlich, aber ständig leicht überfordert wirkte, hielt es für keine gute Idee, die Tiere auf sämtlichen verfügbaren Flächen aufzustellen, aber nachdem Colm versprochen hatte, sie eigenhändig abzustauben, gab sie nach. Während die Männer mit dem Lieferwagen nach Hause fuhren, halfen Henry und Wilbur beim Auspacken von Colms Sachen.
Danach gingen sie zu dritt in den Garten und fütterten die Goldfische, die in einem künstlichen Teich ihre Kreise zogen. Der Verputz des Hauses und der Himmel hatten dieselbe Farbe, ein Blau, das sich nicht entscheiden konnte, zu leuchten oder zu erlöschen. Wilbur und Henry rochen nach dem Rauch des Feuers, das längst Asche war. Von sehr weit her bellte ein Hund. Colm ging in die Hocke, und sein Spiegelbild verschwamm im dunklen Wasser.
Beim Abendessen erzählte Henry seiner Frau, wie erstaunt, ja erschrocken Colm gewesen sei, als sie den Fernseher aus der Kiste gehoben hatten. Erst habe er sich gegen Wilburs Geschenk gewehrt, aber dann hätten sie das Gerät angeschlossen und eingeschaltet, und als, wie zum Beweis für die Gutartigkeit des Kastens, eine Natursendung auf dem Bildschirm erschienen sei, habe Colm sich brav in seinen Sessel gesetzt und staunend verfolgt, wie die Tiere aus seinen Büchern plötzlich laufen lernten.
Pauline, von der Geschichte mehr überrascht als gerührt, meinte, so eine gottgefällige Tat habe sie Wilbur nicht zugetraut. Dann gab es Torte zum Nachtisch, und Pauline bot Wilbur aus einer großzügigen Laune heraus an, später mit ihnen Fair City anzusehen. Henry schien seinen Ohren nicht zu trauen und sah Pauline an, als habe sie dem Jungen gerade einen Flug zum Mars in Aussicht gestellt und nicht eine halbe Stunde irischer Soap. Zur Überraschung beider verzichtete Wilbur auf das zweifelhafte Vergnügen und ging nach oben, um in der Stille seines Zimmers ein kurzes Stück für Cello zu schreiben.
Etwas stach Wilbur ins Bein, und er zog einen Strohhalm aus der Hosentasche. Der Rest lag in einer kleinen Schachtel in einer Schublade von Colms Kommode. Während Wilbur die Noten einer Melodie hinschrieb, die zwischen Traurigkeit und Hoffnung schwankte, stellte er sich Colm vor, wie er die Schachtel hervorholte und seine Nase hineinsteckte und sich an ein Leben erinnerte, das zu Ende war, während der Fernseher keine Tiere mehr zeigte, sondern die Raserei der Welt.
Eamon McDermott war im Schlaf gestorben, aus dem er schon seit Wochen nicht mehr wirklich aufgewacht war. Er wurde in einem Leichenwagen mit bestickten Vorhängen von Milford hergebracht und neben seiner Frau begraben. Miss Ferguson, die aus der Güte ihres Herzens glaubte, Wilbur auch diesmal beistehen zu müssen, hatte Colm Finnerty mit dem Taxi im Heim abgeholt und war mit ihm zum Friedhof gefahren. Es war ein kühler, aber schöner Tag, die geschlossenen Schirme hingen den Leuten an den Armen wie Kokons schwarzer Schmetterlinge, und in einem nahen Baum lärmten ein paar Vögel so laut, dass einer der Sargträger sie mit Steinwürfen vertrieb. Der junge Pfarrer redete, als habe er Eamon gekannt, erwähnte aber mit keinem Wort die Kirche oder den Wahnsinn, wie es die Leute aus der Gegend taten, wenn vom alten McDermott die Rede war. Dafür fasste er das Leben des Verstorbenen in ein paar Sätzen zusammen, aus denen Gold leuchtete und Mut und die Liebe zu der Frau, neben der er jetzt zur ewigen Ruhe gebettet wurde.
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