Nur Erin Muldoon behandelte ihn nicht wie einen Aussätzigen. In den Pausen setzte sie sich sogar ab und zu neben ihn und stellte ihm Fragen. Sie wollte wissen, was genau er beim alten Fitzgerald mache, wie er sich als Waisenkind fühle, ob er noch wachsen würde und wie es gewesen sei, als Conor auf seinen Vater schoss. Weil Wilbur keine oder nur äußerst knappe Antworten gab, redete Erin die meiste Zeit selber. Sie erzählte von ihrer großen Schwester, von einem Auto, das sie sich einmal kaufen würde, von Filmen, die sie gesehen, und den Jungs, die sie geküsst hatte.
Wilbur interessierte sich nicht für Erins Geschwätz, aber wenn er alleine auf der Mauer saß und sie über den riesigen, mit Basketballkörben und Sitzbänken ausgestatteten Pausenhof beobachtete, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, von ihr geküsst zu werden. Erin Muldoon war nach Sharon Brennan das schönste Mädchen an der Schule, jedenfalls in ihrer Altersklasse. Das war auch der Grund, weshalb es sie nicht kümmerte, was die anderen von ihr dachten, wenn sie mit Wilbur redete. Die Jungs waren verrückt nach ihr und wussten, dass Wilbur keine Konkurrenz darstellte. Und die Mädchen, alle darum bemüht, etwas von ihrem Glanz abzubekommen, ließen ihr Wilbur als Laune durchgehen, als exzentrische Pausenbeschäftigung, mit der sie sich amüsierte, natürlich auf Wilburs Kosten.
Wilbur mochte seine neuen Lehrer nicht, weder den dicken, nuschelnden Mr. O’Riordan noch den eitlen Mr. Loughrey, der sich durch Wilburs Intelligenz herausgefordert fühlte und seinem Musterschüler in jeder Unterrichtsstunde so viele Fragen stellte, bis dieser endlich, und meist absichtlich, eine falsche Antwort gab. Sympathien hegte Wilbur nur für Miss Cullen, die junge Englischlehrerin, die dünn und bleich wie er selber war und vor der Klasse so gehemmt, dass sie kaum je den Blick aus den Büchern hob, geschweige denn die Stimme, wenn sie etwas vorlas. Fintan Taggart war weit weg, an seiner Stelle versuchte jetzt Pat Harrahill, aus dem kleinsten und schmalsten Jungen der Schule einen kräftigen Kerl zu machen. Dabei schikanierte der achtfache Vater Wilbur nicht, sondern behandelte ihn wie den Lieblingssohn, den es auf Vordermann zu bringen galt. Seine ruppige Fürsorge und aufmunternden Worte änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass Wilbur zu klein und schwach für Mannschaftsspiele war und nie freiwillig in ein Team gewählt wurde. Auch ein eigens für das Sorgenkind ausgearbeiteter Aufbauplan fruchtete wenig, und als Wilbur nach einem halben Schuljahr beim Völkerball am Kopf getroffen wurde und ohnmächtig niedersank, sah Pat die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ein und befreite Wilbur vom regulären Sportunterricht.
Weil Sport auf dem Unterrichtsplan stand, musste Wilbur, zusammen mit dem halbblinden Ewan Swann und Jack O’Rourke, der einen Klumpfuß hatte, unter der Anleitung von Harrahills schwangerer Frau Caitlin zwei Stunden pro Woche ein leichtes Gymnastikprogramm in der alten Turnhalle absolvieren. Sie erfanden Spiele wie Medizinballrodeo, Mattenkullern und Bankrobben, und Wilbur bastelte einen Klingelball. Wenn das Wetter schön war, gingen sie einfach spazieren, manchmal hüpften sie in der Halle herum und stießen Tierlaute aus. Die Mitschüler nannten sie das Krüppel-Trio, aber Wilbur kümmerten ihre Anfeindungen schon lange nicht mehr. Eine Stunde mit der lauten, fröhlichen Caitlin, die regelmäßig Süßigkeiten mitbrachte und auf einem Kassettengerät Rockmusik abspielte, war tausendmal besser als eine Sekunde in Taggarts verfluchtem Tempel.
Miss Fergusons Stolz auf ihren ehemaligen Schüler Wilbur Sandberg blieb auch nach dessen Fortgang ungemindert. In der Kirche war sie nach seinem musikalischen Vortrag aufgesprungen und hatte so hingerissen applaudiert, dass einige der Anwesenden fanden, ihr Verhalten sei dem Anlass nicht ganz angemessen. Dabei hatte sie sich sogar zurückgehalten und dem Verlangen, nach vorne zu stürmen und Wilbur abzuküssen, nicht nachgegeben. Ihrer Schwester, die in England lebte, erzählte sie am Telefon seit Monaten nur noch von dem kleinen Wunderknaben, der seine überragende Intelligenz nun auch noch mit anbetungswürdigem Cellospiel krönte. Nach dem Unterricht hatte sie Wilbur einmal gebeten, Fotos von ihm machen zu dürfen, damit das Objekt ihrer Hymnen auch in Liverpool ein Gesicht erhielt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie Wilbur Sandberg vergötterte und vermisste, und niemanden in Portsalon hätte es verwundert, wenn sie eines Tages eine selbstgefertigte Büste des Jungen auf ihr Pult gestellt hätte.
In den Wochen, bevor sie ihren Liebling an die neue Schule verlor, behielt sie ihn nach dem Unterricht öfters zurück, um ihm zu versichern, wie sehr sie seinen Fleiß und seine Begabung bewunderte und wie sehr sie sich wünschte, noch mehr Schüler wie ihn zu haben. Sie meinte, Wilbur solle sich die täglichen Gemeinheiten der Klassenkameraden nicht zu Herzen nehmen und prophezeite ihm eine Zukunft, die glorreicher sei als die aller Nichtsnutze der Portsalon National School zusammen. Dann sah sie nach, ob die anderen Kinder das Schulgelände verlassen hatten, und schickte Wilbur, wenn die Luft rein war, nach Hause. Oft stand sie noch am Fenster, obwohl sie den Jungen längst nicht mehr sehen konnte, und weinte still vor sich hin.
Jemand rief aus dem Heim an, in dem Eamon untergebracht war. Es gehe ihm jeden Tag schlechter, wer ihn noch lebendig sehen wolle, verliere besser keine Zeit. Pauline meinte, es sei Wilburs Pflicht, seinen Großvater ein letztes Mal zu besuchen. Möglicherweise habe er nach seinem Enkelsohn gefragt, und wenn ihm dieser letzte Wunsch nicht erfüllt werde, finde er im Jenseits keine Ruhe, während Wilbur sich im Diesseits ewig Vorwürfe machen werde. Henry sah die Sache pragmatischer und erklärte Wilbur, es sei im Hinblick auf ein Testament nicht ratsam, Eamon McDermott auf dem Totenbett zu verstimmen. Aber Wilbur wollte diesen alten verrückten Mann nicht sehen, so nah am Tod schon gar nicht. Er brachte vor, üben zu müssen wegen des Moorhead-Stipendiums, eine baldige Einladung zum Vorspielen sei nicht auszuschließen.
Er bat Matthew um Hilfe, aber auch der konnte nichts für ihn tun, und so saß Wilbur eine Woche später auf dem Rücksitz des polierten Wagens und hörte während der ganzen Fahrt Pauline und Henry zu, die sich nicht einigen konnten, welches der einfachste Weg nach Milford sei. Weil Pauline sich stets durchsetzte und Henry keinen Orientierungssinn besaß, verfuhren sie sich auf den zwanzig Kilometern dreimal.
Als sie ankamen, goss es in Strömen aus einem bleigrauen Himmel. Das Heim, ein dreigeschossiges Hauptgebäude und zwei flache Nebentrakte, stand etwas entfernt von zahllosen identischen Einfamilienhäusern auf einem riesigen Feld am Ortsrand. Während Henry umständlich einparkte, steckte Wilbur sich den Finger in den Hals, aber er hatte nichts gefrühstückt, und so blieb auch der letzte Versuch, sich vor dem Wiedersehen zu drücken, erfolglos. Pauline strich ihm die Haare glatt und nahm ihn unter den Schirm, während Henry, den Mantel über den Kopf gezogen, zum Eingang rannte.
Eine Angestellte führte sie zu Eamons Zimmer. Auf Paulines Frage, ob Mr. McDermott nach seinem Enkelsohn verlangt habe, antwortete die Frau, er spreche schon seit Monaten kein Wort mehr. Wilbur wollte das zum Anlass nehmen umzukehren, aber Henry bestand darauf, den weiten Weg nicht umsonst gefahren zu sein. Die Frau klopfte an Eamons Tür und trat ein. Henry schob Wilbur vor sich her, Pauline hielt sich im Rücken ihres Mannes.
Im Zimmer roch es nach dem Mittagessen, das hier um elf serviert wurde, und Wilbur bildete sich ein, einen Hauch von Urin wahrzunehmen. Als die Frau Eamon mit lauter Stimme den Besuch verkündete, zuckte Pauline zusammen, aber der alte Mann bewegte keinen Muskel. Er saß vor dem einzigen Fenster des Raumes, schien jedoch nicht hinauszusehen. Eamon McDermott war mager geworden, kleiner, weniger. Wilbur erkannte seinen Großvater kaum noch. Der Mann, der einmal sein Feind gewesen war, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Riesen, dessen Schatten damals einen ganzen Raum verdunkelte.
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