In seinem Zimmer schrieb Wilbur Sonaten ab, ganze Symphonien. Vor dem Einschlafen summte er das am Tag Gehörte, nach dem Aufwachen pfiff er, was er später spielen würde. Pauline fand, ihr Pflegesohn übertreibe es mit der Begeisterung für Musik ein wenig, aber sie kannte Matthew Fitzgerald, und obwohl er kein Katholik, ja nicht einmal Protestant war, teilte sie die Ansicht der Leute im Ort, er sei ein anständiger Mann.
Als Wilbur immer öfter bis zum Abend verschwunden war, hatte sie ihn zur Rede gestellt, und Wilbur hatte ihr von den Cellolektionen erzählt. Wenig später waren Pauline und Henry zu Gast bei Matthew und überzeugten sich davon, dass der alte Mann dem Jungen beibrachte, ein Instrument zu spielen. Es gab Tee und Gebäck, und Wilbur setzte ein paar Töne aneinander, die entfernt an eine Melodie erinnerten. Matthew trug seinen besten Anzug und versprach den Conways beim Abschied, bis Weihnachten könne Wilbur auf dem Cello Stille Nacht spielen. Pauline war von dieser Aussicht begeistert und malte sich bereits aus, wie der dank ihres Einflusses wohlgeratene Ziehsohn beim Gottesdienst die Gemeinde in Beifallsstürme ausbrechen ließ.
Henry meinte, der magere Junge solle sich neben der Musik auch dem Sport widmen und Gaelic Football oder Hurling spielen, aber damit fand er weder bei Wilbur noch seiner Frau Gehör. Wilbur hasste jede Form von Sport oder sogenannten Spielen, bei denen es um Körperkraft und deren brutalen Einsatz ging, und seit Fintan Taggart sein Turnlehrer war, hatte sich sein Widerwillen noch verstärkt. Pauline teilte Wilburs Abscheu gegenüber roher, als Wettkampf getarnter Gewalt, doch stieß sie sich vielmehr an der Tatsache, dass die muskulösen, verschwitzten Leiber der Burschen bei den jungen Zuschauerinnen unzüchtige Gedanken auslösten. Zudem gefiel ihr die Vorstellung, Wilbur im Bekanntenkreis bald als Hausmusikanten ankündigen zu können, ausnehmend gut, und sie wollte nicht, dass dieser zukünftigen Attraktion ein zum Cellospiel benötigter Finger gebrochen wurde.
Ein halbes Jahr später spielte Wilbur in der Kirche Stille Nacht , wie Matthew Fitzgerald es versprochen hatte, und alle Anwesenden waren sich darin einig, dass Gott mit diesem talentierten Jungen Großes vorhatte.
Zwei Tage vor dem Besuch der Delegation hat Vermeer mich zu sich gebeten. Er ist mit mir den Ablauf des Treffens durchgegangen und hat mich auf Fragen vorbereitet, die aller Wahrscheinlichkeit nach von den Abgeordneten gestellt werden. Er bat mich, ehrlich zu sein und nicht etwa einen Lobgesang auf die Offene Abteilung oder gar die gesamte Institution anzustimmen. Die Männer und Frauen des Ausschusses seien Experten und würden sofort erkennen, wenn ihnen etwas vorgemacht würde. Ich hörte Vermeer zu und gab ein paar Probeantworten auf Probefragen. Er meinte, ich solle keine wissenschaftlichen Ausdrücke verwenden und nicht erwähnen, dass es mir gelungen war, einen Spiegel zu zertrümmern und mich in den Besitz eines Bademantelgürtels zu bringen.
Ich versprach es ihm, nachdem ich den Gedanken, ihm alles zu gestehen, verworfen hatte. Vermeer war beinahe rührend in seinem Stolz auf uns beide. Auf mich, weil ich bald den Schritt zurück in die Gesellschaft schaffen würde, auf sich selbst, weil er mir den Raum und die Ruhe gegeben hatte, um diesen Schritt vorzubereiten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen, also schwieg ich. Vermeer bedankte sich und gab mir einen Scheck über eintausend Dollar, die Hälfte der vereinbarten Summe, meines Startkapitals für draußen. Er verstand es als Vorschuss und Vertrauensbeweis, vermutlich auch als Motivationshilfe. Ich nahm den Scheck, wir schüttelten uns die Hände, und ich ging zurück in mein Zimmer.
Ich habe Aimee einen Brief geschrieben. Ich werde sie nicht wiedersehen und will nicht, dass sie glaubt, ich würde sie hassen. Ich habe sie ein paar Tage lang gehasst, aber das ist vorbei. Die Worte kommen nicht von alleine, an jedem Satz sitze ich eine Ewigkeit. Ich schreibe nicht, dass ich sie liebe, das wäre falsch. Falsch, weil ich nicht weiß, ob es stimmt, und weil es nichts bringen würde. Ich haue morgen hier ab und habe nicht vor, noch einmal vorbeizuschauen. Der Brief besteht aus durchgestrichenen Wörtern, aus Umformulierungen und Präzisierungen. Er sagt etwas, das ich loswerden will, ohne mich schutzlos zu machen. Er ist nicht kalt und nicht gefühlsduselig, weder leidenschaftlich noch ganz ohne Regung. Er ist sachlich, ein nüchterner Abschied.
Ich schreibe die Sätze in sauberer Schrift auf ein neues Blatt, falte es zusammen und stecke es in einen Umschlag, auf den ich ihren Namen setze. Den Umschlag lege ich unter mein Kopfkissen. Es gibt eine Regel hier drin, die besagt, dass dein Kopfkissen tabu ist, und was darunter ist, ebenfalls. Zumindest hat Melvin mir das erzählt, aber vielleicht hat er das auch bloß getan, damit ich seine Pantoffeln in Ruhe lasse.
Den Rest des Morgens sehe ich Melvin und Sydney beim Damespielen zu. Melvin erzählt, Stan sei von der Krankenstation in die Beobachtungsstation verlegt worden. Ich bitte ihn, Grüße von mir auszurichten. Melvin sieht mich an. Vielleicht weiß er, dass ich gehe. Er lächelt und nickt und stellt seine Steine neu auf. Sydney gewinnt jede Partie, aber das scheint Melvin nicht zu stören. Die Mütze auf seinem Kopf heißt Kippah oder auch Schabbes, ich habe im Lexikon nachgeschlagen.
Am Nachmittag gehe ich noch einmal durch die ganze Abteilung. Ich erzähle keinem, dass ich morgen verschwinden werde, aber ich schaue bei allen rein und halte einen kurzen Schwatz, sofern es der Zustand der Männer erlaubt. Rodrigo, zum Beispiel, ist heute noch schlechter gelaunt als üblich. Er wirft mir irgendetwas Spanisches an den Kopf und verzieht sich in die Raucherkabine. Ho freut sich über das Interesse, das ich für sein Dorf aus Streichholzhäusern vortäusche. Roger drückt mir einen weiteren Ordner in die Hand, und ich verspreche, ihn zu lesen. Ich spiele eine Runde Billard, oder was immer es ist, mit Raymond und Elroy. Sie erzählen mir, dass Edward Kanonenfutter Carson nicht mehr hier ist. Seine Eltern haben ihn am Morgen abgeholt. Ich lasse die Kugel an einem Keksstapel vorbeirollen und treffe die Untertasse, was mich zum Sieger der Partie macht. Zwei Neue werden mir vorgestellt, Lester und Fred, beide um die fünfzig, schüchtern und wortkarg. Sie wissen, dass wir wissen, weshalb sie hier sind. Es ist ihnen peinlich, und sie stehen da wie Schuljungen, die beim Onanieren erwischt wurden.
Ich frage mich, wo all diese Männer herkommen, ob sie im ganzen Land eingesammelt und hierher verfrachtet werden, und warum es ihnen nicht gelungen ist, sich umzubringen, oder ob sie es darauf angelegt haben, gefunden und gerettet zu werden. Lester und Fred sahen jedenfalls ziemlich unversehrt aus und nicht wie Typen, die den Mumm haben, sich vor eine Lokomotive zu werfen oder eine Kugel in den Kopf zu jagen. Vielleicht haben sie an ihrem Geburtstag Tabletten geschluckt oder auf einem öffentlichen Parkplatz die Abgase ihrer Autos eingeatmet, oder sie standen auf dem Fenstersims ihres Büros im siebzehnten Stock und warteten auf den Psychologen, der sie zum Weiterleben überreden würde. Vielleicht wollten sie sich tatsächlich das Leben nehmen und hatten Glück. Oder Pech.
Elroy schlägt eine weitere Partie Dadaistenpool vor, aber Sam kommt über den Flur und reißt mich aus diesem Stelldichein der Verlorenen und beinahe Wiedergefundenen und zieht mich am Arm fort. Obwohl ich nicht unglücklich bin über seine Fluchthilfe, will ich wissen, was los ist. Er sagt, jetzt, wo ich wieder alle Tassen im Schrank habe, könne ich endlich seine Petition gegen die verdammten Ziegen unterschreiben. Außerdem müsse ich ihm in der Tischlerei helfen.
«Die erste Bank ist fertig«, sagt er.»Und du darfst helfen, sie rauszutragen. «Er lässt meinen Arm los, und wir gehen nebeneinander die Treppe hinunter.
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