Ich könnte mit den zweitausend Dollar auch einen Privatdetektiv engagieren, der in meiner angeschlagenen Erinnerung kramt.
Der alte Mann hieß Matthew Fitzgerald. Er war einundsiebzig Jahre alt und Engländer. Bis er zweiundsechzig war, lebte er in Norwich, wo er an der University of East Anglia Cello unterrichtete. Als er den Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, unternahm er eine Reise durch Irland und fand das Haus, das er jetzt bewohnte. Das feuchtkalte Klima im Nordwesten der Insel war zwar Gift für sein Rheuma, dafür schien die frische Luft seinen Lungen gut zu bekommen. Matthew Fitzgerald rauchte, seit er vierzehn war, und er gab sich nicht der Illusion einer Genesung oder gar wundersamen Heilung hin. Aber er schwor auf die lindernde Wirkung der Brise, die ihm während Spaziergängen vom Meer entgegenwehte und die seinen Husten fast zum Verschwinden gebracht hatte, obwohl er sich noch immer hin und wieder eine filterlose Zigarette gönnte.
Er war ein großgewachsener Mann mit kräftigen Händen, denen man den zarten Umgang mit Bogen und Saiten nicht zutraute. Sein Haar war dunkel und drahtig, und das Alter bestrafte ihn weder mit lichten Stellen noch gänzlichem Ergrauen. Essen war ihm lästig, weshalb er nie dick gewesen war und jetzt von Jahr zu Jahr dünner wurde. Sein einziges Gebrechen war eine Sehschwäche, die ihn bei Kriegsausbruch von dem Dienst an der Waffe befreit und ihm möglicherweise das Leben gerettet hatte. Überall im Haus lagen Brillen, deren Gläser dick wie Glasbausteine waren und ohne die er seine Umgebung als düstere, konturenlose Höhle wahrnahm. Eine Zeitlang hatte er kleine Brillen mit runden Gläsern und Gestellen aus Draht getragen, die nichts wogen und in seinem bärtigen Gesicht verschwanden. Jetzt bevorzugte er die massiven Modelle aus Horn oder Kunststoff, schwarze und braune Fassungen, gemasert und glänzend und nicht zu verbiegen, nur zu brechen. Als Kind hatte er sie gehasst, jetzt liebte er ihr Gewicht und den leichten Widerstand der Scharniere, wenn er die Bügel auf- oder zuklappte.
Er war verheiratet gewesen, länger als ein Leben lag das zurück. Cynthia Moss arbeitete beim städtischen Bauamt, wo sie, unter anderem, für die Bewilligungen zum Fällen von Bäumen zuständig war. Matthew hatte das Haus seiner Eltern geerbt, die jung gestorben waren, sie mit Mitte vierzig an Tuberkulose, er ein Jahr darauf an gebrochenem Herzen, noch keine fünfzig. Matthew wollte eine Fichte beseitigen lassen, die bei Wind vor seinem Schlafzimmerfenster schwankte und im Winter unter der Last des Schnees zusammenzubrechen drohte. Aber jetzt, nur wenige Jahre nach dem Krieg, waren Bäume in den Städten selten, und die wenigen verbliebenen standen unter behördlichem Schutz.
Nach einem verbissen geführten Papierkrieg stürmte Matthew eines Tages ins Büro seiner Brieffeindin, bereit, sie mit dem Ast, der am Morgen seinen Kopf nur um Haaresbreite verfehlt hatte, zu erschlagen, als ihn die Liebe, oder das, was er dafür hielt, wie ein Stromstoß traf. Von diesem Tag an stand er allabendlich vor ihrem Büro und flehte um ein gemeinsames Abendessen, einen unverfänglichen Lunch, eine harmlose Tasse Kaffee. Er schwor, den Baum in Ruhe zu lassen, schickte ihr Blumen und schrieb eine Sonate für sie. Er wollte auf dem Flur vor ihrem Büro Cello spielen und wurde des Hauses verwiesen. Er trug ihr ein selbstverfasstes Gedicht am Telefon vor, bis sie nicht mehr auflegte.
Irgendwann gewährte sie ihm ein Abendessen. Er führte sie ins beste Lokal der Stadt und gab dem Kellner Tage zuvor Geld, damit der ihn als Herrn Professor und Stammgast begrüßte. Von da an durfte er sie immer samstags einladen. Cynthia schätzte gutes Essen und teuren Wein, und wenn sie einen besonders raffinierten Nachtisch verschlang, erlaubte sie sich sogar die Blöße eines Lächelns. Bald hatte Matthew die Ehre, seine Liebe zwei- oder dreimal pro Woche durch ihren Magen gehen zu lassen. Mit jedem Pfund, das sie an Gewicht zulegte, bröckelte ihr Widerstand gegen Matthews Avancen, und eines Nachts ging sie, leicht benommen von einem sündhaft teuren Pommard, mit ihm nach Hause.
Begleitet vom Ächzen der Fichte, deren Äste das Mondlicht verwischten, legte Matthew sich neben Cynthia und durchbrach ihre letzte Schranke, rang schwitzend und keuchend um ein bisschen Lust und sank schließlich über ihr zusammen, einen Schrei ausstoßend, in dem Triumph und Selbstverachtung schwangen und eine Verzweiflung, die ihn frösteln ließ und bis zum Morgen wach hielt.
Eine Weile sahen sie sich nicht, und Matthew war froh darüber und hoffte, Cynthia fühle genauso. Er dachte daran, sie ein letztes Mal zum Essen einzuladen und ihr zu sagen, warum er die Beziehung, wenn es denn überhaupt eine war, beenden wollte. Aber er brachte es nicht fertig, sie anzurufen. Er besaß eine Fotografie von ihr, und manchmal nahm er sie hervor und sah sie an. Er hatte die Aufnahme gemacht, sie zeigte Cynthia vor der Fichte stehend, die Arme hinter den Rücken gelegt, das Kinn erhoben. Ihr Blick ging an der Kamera vorbei, nicht schüchtern, sondern kühl und eine Spur hochmütig. Zwei Wochen später warf Matthew das Bild weg und fällte den Baum.
Im Monat darauf teilte Cynthia ihm telefonisch mit, sie sei schwanger. Matthew war am Boden zerstört. Er dachte daran, Cynthia seine Ersparnisse und das Haus zu überlassen und nach Frankreich zu gehen, wo ein ehemaliger Studienfreund ein Weingut betrieb. Dann dachte er an das Kind und daran, dass es ohne Vater aufwachsen würde. Er versuchte sich einzureden, dass er es besuchen würde, aber er wusste, dass es nicht dasselbe wäre. Also blieb er.
Cynthia war konservativ, aber verglichen mit ihren Eltern, die er bald kennenlernte, erschien sie Matthew wie die Verkörperung von Rebellion und Fortschritt. Als sie heirateten, war er einunddreißig, sie fünf Jahre jünger. Er war ein Virtuose auf dem Cello, aber er reiste nicht gerne, und so unterrichtete er, seit er zwanzig war, statt mit Symphonieorchestern durch die Welt zu ziehen. Sie besaß einen Ehrgeiz, der sich aus einem absurden Gefühl der Minderwertigkeit nährte. Wo ihr Intelligenz und Phantasie fehlten, behalf sie sich mit Verbissenheit. Sie glaubte an sozialen Aufstieg, beruflicher Erfolg war ihre Religion. Wenn der selbstauferlegte Druck zu groß und sie schwach wurde, was selten geschah, kam die Frau zum Vorschein, von der Matthew manchmal glaubte, er könne sie sehen, gut gepolstert hinter Disziplin und Stolz. Dann weinte sie ein bisschen und erzählte ihm von ihren Träumen, in denen tropische Wälder vorkamen, breite Ströme und ein Floß, dessen Stämme sie selber gefällt hatte. Dann wurde sie weich, und er tröstete sich mit dem Gedanken, sie vielleicht doch zu lieben, nicht so, wie seine Eltern sich geliebt hatten, aber immerhin genug, um mit ihr zu leben. Ihre Eltern reisten zur Hochzeit aus Manchester an, wo sie eine Kohlehandlung führten, übernachteten einmal im Hotel und schenkten dem Paar eine Waschmaschine.
Als der Junge zur Welt kam, wurde Matthew daran erinnert, was Glück war. Seine Fähigkeit zu lieben, die durch das Leben an Cynthias Seite verkümmert war, wuchs zu einem überwältigenden Gefühl, das ihn alle Bitterkeit und Reue vergessen ließ. Während Cynthia eine Weiterbildung zur Forstökonomin machte und abends und an den Wochenenden lernte, wie Wälder am gewinnträchtigsten bewirtschaftet wurden, gab Matthew seinen Beruf fast völlig auf und kümmerte sich um seinen Sohn. Er war ein hingebungsvoller Vater, obwohl er sich bis zu Williams Geburt nie ernsthaft überlegt hatte, ob er einer werden wolle, und falls ja, ob ihm die Aufgabe liegen würde. Er dachte, er würde das Unterrichten vermissen, die Studenten, seinen Raum in der Universität, den ganzen Betrieb, aber das war nicht der Fall.
Er spielte William auf dem Cello vor und entlockte dem Instrument Geräusche, derer er sich früher geschämt hätte, nur um den Jungen zum Glucksen zu bringen. Sie gingen spazieren, sahen sich im Zoo die seltsamsten Tiere an und lagen nebeneinander auf den Wiesen von Parks und formten die Wolken nach ihren Wünschen. Sie kauerten in Bächen und wendeten jeden Stein, um darunter Welten zu entdecken. Ein Teich wurde zum Ozean, den sie auf Papierschiffen überquerten, bei Regen saßen sie am Küchentisch und bauten aus Fundstücken eine Maschine, die Glück herstellte.
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