Als William vier Jahre alt war, zog die Familie nach London, wo Cynthia eine Stelle beim Umweltministerium erhalten hatte. Jetzt sah Matthew seine Frau überhaupt nicht mehr, und William blickte seinen Vater ratlos an, wenn der das Wort Mutter benutzte. Ein halbes Jahr später einigten sich Matthew und Cynthia darauf, eine Weile getrennt zu leben. Matthew und William fuhren zurück nach Norwich und wohnten von nun an mit einer alten Dame, der sie das Haus vermietet hatten, unter einem Dach. Eigentlich hatte Miss Baldwin vorgehabt, einen alleinstehenden Herrn als Wohngenossen zu finden, aber die neue Situation gefiel ihr noch besser. Sie war vierundsiebzig und blühte in der Gesellschaft der beiden Männer noch einmal richtig auf. Obwohl sie nie verheiratet gewesen war, liebte sie Kinder über alles. Wenn sie an zwei Nachmittagen in der Woche, an denen Matthew Unterricht gab, auf William aufpasste, wollte sie den Jungen am Abend gar nicht mehr hergeben.
Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, dass die drei gemeinsam aßen, im Park spazierten und sich im Radio Konzerte und Liveberichte von Fußballspielen anhörten. Miss Baldwin war Anhängerin des FC Norwich City, und bald saß das Trio bei jedem Heimspiel im Stadion. Im Gegenzug brachte Matthew ihr die Welt der klassischen Musik näher, spielte ihr auf dem Cello vor, schenkte ihr Schallplatten und lud sie zu Konzerten ein. Es war ihm egal, was die Nachbarn von ihm dachten, und wenn er Agnes einmal pro Woche zum Essen ausführte, sollten die Leute eben denken, sie sei seine Mutter. An diesen Abenden engagierte er eine Babysitterin für William, eine junge Frau, der er das Cellospiel beibrachte und die dem Jungen Kostüme schneiderte, Peter Pan, Prinz Eisenherz, Buffalo Bill.
Alle zwei Monate setzten sich Matthew und William in den Zug und fuhren nach London, um ein paar Stunden mit einer Frau zu verbringen, die auf dem Papier Matthews Gattin und biologisch gesehen Williams Mutter war. Alles in Cynthias Leben fand zwischen Tür und Angel statt, zwischen Lunch und Dinner, einem Meeting und dem nächsten. Sie überhäufte ihren Sohn mit Geschenken, lauter Dingen, mit denen der Junge nichts anzufangen wusste, und zeigte ihm Prospekte von Privatschulen, als deren Schüler sie ihn bereits sah. William versprach, die Unterlagen zu studieren und eine Liste mit seinen Favoriten anzulegen. Zu Hause in Norwich landeten die Hochglanzbroschüren im Abfall, denn der Junge hatte sich längst für eine Karriere als Profifußballer oder Höhlenforscher entschieden. Matthew wollte nicht mit seiner Frau streiten und sagte ihr deshalb nicht, für wie unsinnig er es hielt, einen Fünfjährigen mit der Planung seiner Zukunft zu behelligen.
In den Londoner Nächten arbeitete Cynthia an Matthew etwas ab, das sie als ihre Pflicht betrachtete und dessen technische Ausführung sie in Büchern nachgeschlagen hatte, als handle es sich dabei um Anleitungen zur Bepflanzung von Steilhängen oder den Schutz von Jungwuchs vor Wildverbiss. Zum Geschlechtsverkehr im eigentlichen Sinn kam es dabei nicht, denn Cynthia wollte kein zweites Mal das Risiko eingehen, schwanger zu werden. Hatte Matthew zu Beginn noch voller Staunen und in einer Mischung aus gestauter Lust und Masochismus auf die neu erworbenen Fertigkeiten seiner Frau reagiert, so wehrte er sich schon bald gegen die immer hastiger und unsinnlicher ausgeführten Zuwendungen, indem er sich einfach umdrehte und tat, als schlafe er. Cynthia schien ein wenig enttäuscht zu sein, aber auch erlöst. Jedenfalls ließ sie ihn in Ruhe, und beim nächsten Besuch schlief sie in ihrem Bürozimmer.
Es war während eines dieser Kurzaufenthalte in London, als die Welt aufhörte, sich zu drehen. William war sechs Jahre alt und der hellste Stern in Matthews Universum. Er hatte die schwachen Augen seines Vaters geerbt, aber auch dessen kräftigen Körperbau und die dunkelbraunen Locken. Der Junge konnte einfache Stücke auf dem Cello spielen, freihändig Fahrrad fahren und einen flachen Stein ein Dutzend Mal über das Wasser hüpfen lassen. Er wusste, wie eine Amsel sang und wie eine Meise, kannte alle Spieler des FC Norwich City, zeichnete Pferde, die als solche zu erkennen waren, und mähte den Rasen vor dem Haus zwei Minuten und elf Sekunden schneller als sein Vater.
Sie besichtigten eine Privatschule im Westen der Stadt, Cynthia hatte darauf bestanden. Es war Ferienzeit, und mehrere Eltern kamen mit ihren Kindern, um sich die leerstehenden, deshalb aber nicht minder imposanten Gebäude zeigen zu lassen. Eine Frau in einem dunkelgrauen Kleid führte sie durch Schlafsäle und Turnhallen, Unterrichtsräume und endlose Flure. Sie sahen in eine Kapelle, eine Küche und eine düstere Bibliothek. Matthew hielt seinen Sohn die ganze Zeit an der Hand, während Cynthia die grau gekleidete Frau mit Fragen überhäufte.
Am nächsten Morgen hatte William Kopfschmerzen und leichtes Fieber, das in der Nacht höher wurde. Im ersten Tageslicht eilte Matthew los, um bei einer Notfallapotheke Medikamente zu besorgen, und als er zurückkam, saß Cynthia schluchzend auf Williams Bett und versuchte den apathischen Jungen anzukleiden. Das Sekretariat der Privatschule hatte angerufen und ihr mitgeteilt, vier Kinder, die am Besichtigungstermin teilgenommen hatten, lägen mit Hirnhautentzündung im Krankenhaus.
Ein Ambulanzwagen und ein Taxi wurden losgeschickt, um Matthew und Cynthia und ihren Sohn zur Klinik zu fahren, wo über einen ganzen Flügel Quarantäne verhängt worden war. Am Nachmittag des folgenden Tages starb ein zwölfjähriges Mädchen, am Abend William. Der Ruck, mit dem die Erde zum Stillstand kam, war so heftig, dass der Boden unter Matthews Füßen wegrutschte.
William wurde auf dem Friedhof beerdigt, der nur wenige Minuten vom Haus entfernt lag und in dessen Steinmauern Eidechsen lebten. An Sommertagen hatten er und sein Vater oft stundenlang vor diesen Mauern gesessen und den Tieren zugesehen, wie sie sich sonnten und Insekten jagten, grün schimmernde Leiber, die in den Ritzen verschwanden, wenn William die Hand nach ihnen ausstreckte. Cynthia hatte bei ihrem Arbeitgeber eine Freistellung auf unbestimmte Zeit beantragt und lebte wieder bei ihrem Mann. Agnes Baldwin fand ein Zimmer ein paar Häuser entfernt und wurde im örtlichen Tierheim tätig, um nicht gänzlich in Schmerz und Trauer zu versinken.
Matthew war drei Monate krankgeschrieben, eine Cellistin aus Polen übernahm seine Unterrichtsstunden. Er ging jeden Tag zu Willliams Grab, weinte, bis er keine Tränen mehr hatte, und verdöste ganze Nachmittage in einem verdunkelten Zimmer. Nachts trank er, bis wieder Tränen flossen, ging am nächsten Morgen zum Grab und taumelte zurück in eine endlose Wiederholung verlorener Tage.
Für Cynthia war die Entscheidung, bei ihrem Mann zu bleiben, eine weitere Pflicht, eine Aufgabe, der sie sich stellen musste. Im Krankenhaus war sie bei der Nachricht vom Tod ihres Kindes zusammengebrochen. Drei Tage lang lag sie in Dunkelheit, dämmerte dahin, gehüllt in eine Stille, die in ihr gewohnt hatte. Es war, als sei all die Härte, von der sie sich jahrelang hatte tragen lassen, zu Staub verfallen, als sei sie ein Baum gewesen, den ein Blitz innerhalb eines Atemzugs zerstören konnte. Am vierten Tag stand sie auf, um zu trauern, am fünften nahm sie ihr Leben wieder in die Hand. Was zu tun war, erledigte sie, organisierte das Begräbnis, die Todesanzeige, die Trauerkarten, die Übernachtung ihrer Eltern. Sie fuhr mit Matthew zurück nach Norwich und kümmerte sich um ihn, wie es die Krankenschwestern in London getan hatten. Wenn er weinte, versuchte sie ihn zu trösten, zitierte den Bestattungsunternehmer und sagte Worte wie Tapferkeit und Zuversicht und Mut. Am meisten benutzte sie das Wort Stärke, obwohl sie sah, dass Matthew davon nichts mehr besaß. Zwei Wochen nach der Beerdigung lag Matthew noch immer Nachmittage lang in einem der Zimmer, und sein Anblick tat ihr weh, aber nach einem Monat empfand sie statt Mitleid Ungeduld, dann leise Abscheu, weil er so schwach war und sie an ihre eigene Verletzbarkeit erinnerte.
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