«Sie wollen sich also in die Karten Ihrer Zukunft sehen lassen«, sagte Barney plötzlich, und alle am Tisch sahen Wilbur an. Sogar der pummelige Zwergenkönig ließ die durchweichte Brotrinde sinken und schien auf eine Antwort zu warten.
Wilbur verschluckte sich und trank etwas Wasser, dann nickte er vage, wobei ein halbes Kopfschütteln herauskam. Er bemerkte erst jetzt, dass bis auf seinen alle Teller leer waren und Carrie einen Kuchen zerteilte, während Mabel Kaffee machte.
«Ich hätte Schiss«, sagte der kleinere der Jungen. Er war vielleicht fünf und fischte die Krumen aus dem Kuchenteller, die beim Zerschneiden abfielen. Seine Bemerkung erntete ein paar Lacher. Wilbur lächelte unsicher.
«Keine Sorge«, sagte Fedora und legte Wilbur ihre Hand auf seine,»Ihren Todestag kann ich nicht voraussehen.«
«Ich werde uralt«, sagte der ältere Junge stolz. Wilbur schätzte ihn auf neun oder zehn. Er trug ein Leibchen der New York Giants und war neben Barney der einzige in der Familie ohne Übergewicht.»Das kommt von den Strichen in meiner Hand.«
«Das stimmt, Norman«, sagte Fedora,»deine Lebenslinie ist sehr ausgeprägt und lang.«
Wie zum Beweis zeigte Norman allen seine Handflächen, während sein kleiner Bruder verstohlen die eigenen betrachtete.
«Wie lang ist deine, Wilbur?«fragte Norman.
«Das geht dich nichts an, Norm«, sagte seine Mutter, die mit der Kaffeekanne an den Tisch kam.»Hol die Tassen.«
Norman erhob sich und ging zu einem der beiden Schränke. Er musste auf eine leere Getränkekiste steigen, um an das Regal mit den Tassen heranzukommen.
Wilbur merkte, dass er rot angelaufen war. Er wusste nicht, was ihn mehr verwirrte, Normans Frage oder die Tatsache, dass der Junge ihn beim Vornamen genannt hatte, als sei er kein Gast, der zum ersten und aller Voraussicht nach einzigen Mal am Tisch saß, sondern ein regelmäßiger Besucher, ein alter Freund, ein Familienmitglied. Für Sekunden durchflutete Wilbur das absurde Gefühl, Teil dieser seltsamen Sippe zu sein. Er trank sein Glas leer, das von Fedora gleich wieder gefüllt wurde, und faltete umständlich seine Papierserviette zusammen.
«Ich wette, seine Lebenslinie ist lang«, sagte Carrie. Ihr Gesicht, das trotz der fleischigen Backen und des Doppelkinns hübsch war, machte es schwer, ihr Alter zu erraten, aber Wilbur vermutete, dass sie mindestens zwölf und höchstens fünfzehn war.
Wilbur erinnerte sich an die Kirmeshellseherin, die seine Hand betrachtet und ihn wortlos fortgeschickt hatte, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, mit seiner Lebenslinie könnte etwas nicht in Ordnung sein. Wie ein Verbrecher, der sich stellt und auf das Anlegen der Handschellen wartet, streckte er Fedora beide nach oben gedrehten Handflächen hin.
Fedora sah ihn überrascht an.»Jetzt?«
Wilbur nickte.»Ja«, sagte er. Falls etwas im Geflecht seiner Handlinien stand, das Anlass zur Sorge gab, wollte er es in dieser nach Kaffee und Kuchen duftenden Küche hören, im Beisein dieser Menschen, deren bloße Anwesenheit Trost versprach, und nicht in einem Raum, den er sich mit orientalischem Nippes geschmückt vorstellte und in dem er mit Fedora und seinem aller Wahrscheinlichkeit nach düsteren Schicksal alleine wäre.
«Eine Sitzung kostet dreißig Dollar«, sagte Fedora, während sie Wilburs Hände in den fleckenlosen Kreis der Tischdecke legte, wo eben noch ihr Teller gestanden hatte.
«Ich hab genug dabei«, sagte Wilbur. Er hätte das Geld hervorgenommen, wären seine Handgelenke von Fedora nicht sanft festgehalten worden.
«Ich weiß«, sagte Fedora lächelnd,»in Ihrer Brieftasche befinden sich achtzig Dollar.«
Wilbur hatte am Morgen hundert Dollar eingesteckt und in der Bar zwanzig ausgegeben. Er sah Fedora mit einer Mischung aus Besorgnis und Ehrfurcht an und nickte.
«Wow!«rief Norman, gleichermaßen sein Erstaunen über Wilburs Reichtum und die hellseherischen Fähigkeiten seiner Großmutter zum Ausdruck bringend.
Der Königsklops schwang glucksend sein Zepter. Mabel nahm ihm das Lätzchen ab und stellte ein kleines Stück Kuchen vor ihn hin, das er skeptisch betrachtete. Alle tranken Kaffee, auch die Kinder, die viel Milch und löffelweise Zucker in ihre Tassen schütteten. Mittlerweile zeigten die beiden Uhren in der Küche zwanzig nach zehn beziehungsweise halb elf. Fedora hatte eine Brille aufgesetzt und studierte Wilburs Handfläche wie ein altertümliches Schriftstück, das zu entziffern nur sie in der Lage war. Nach einer Weile nahm sie die Brille ab und sah Wilbur an.
«So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte sie ruhig und mit einem Ton in der Stimme, in dem Bewunderung und Bestürzung schwangen.»Noch nie.«
Barney und Malcolm setzten ihre Tassen ab, Mabel ließ die Hand mit dem Kaffeekrug sinken, und die Kinder hielten in ihren Kaubewegungen inne.
Wilbur stockte der Atem. Er überlegte hektisch, ob Fedoras Aussage etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete, ob sie gerade seinen nahenden Tod gesehen hatte oder ihm gleich verkünden würde, er sei zu ewigem Leben verdammt.
«Hier, schauen Sie«, sagte Fedora und zeigte auf eine Stelle am Ansatz des Handgelenks.»Das ist der Beginn Ihrer Lebenslinie. «Sie folgte mit dem schwarz lackierten Fingernagel der Linie.»Und da endet sie.«
Wilbur sah genauer hin und erkannte den Ansatz einer Kerbe, die nach etwa fünf Millimetern in einem glatten, rillenlosen Nichts endete. Seine Handfläche, das wurde ihm zum ersten Mal bewusst, war leer, eine Ebene ohne Straßen. Er fragte sich, warum ihm das bisher nicht aufgefallen war und ob Orla es je bemerkt hatte, und falls ja, ob sie diese furchenlose Nacktheit seiner allgemeinen Unterentwicklung zugeschrieben hatte.
Norman und Carrie waren aufgestanden und hatten sich hinter ihre Großmutter gestellt, um das Naturereignis in Wilburs Hand zu bestaunen.
«Eine Schicksalslinie kann ich überhaupt nicht erkennen«, sagte Fedora.»Nicht eine Spur davon. «Sie schüttelte den Kopf.»So etwas habe ich noch nie gesehen. Nie.«
Wilbur fühlte sich an den Moment in dem stickigen Wohnwagen in Kindrum erinnert, als die Zigeunerin ihm das Geld zurückgegeben und ihn weggeschickt hatte.
«Aber hier«, sagte Fedora und tippte mit dem Fingernagel in die Mitte von Wilburs Handfläche,»taucht die Lebenslinie wieder auf. «Fedora zog Wilburs Hand nah ans Gesicht.»Und teilt sich in zwei Richtungen.«
«Was bedeutet das, zwei Richtungen?«fragte Dexter. Kuchenkrümel klebten in seinen Mundwinkeln.
Fedora lächelte Wilbur an.»Dass Wilbur zwei verschiedene Wege gehen kann«, sagte sie. Dann bettete sie seine Hand zurück auf den Tisch, wo sie liegen blieb, ein offenes Buch ohne Text, eine Landkarte ohne Straßen.
Als Wilbur weit nach Mitternacht ins Freie trat, regnete es wieder. Fedora hatte ihm einen Schirm gegeben, den er jetzt aufspannte. Sie hatte gesagt, er könne das hässliche Ding mit dem Aufdruck einer Motorenölmarke jederzeit zurückbringen. Wilbur merkte sich die Adresse und machte sich auf die Suche nach einem Taxi. Während der Heimfahrt betrachtete er im flackernden Schein der über die Fensterscheiben gleitenden Lichter seine Handflächen. Die Lücke zwischen dem Stummel und der Fortsetzung seiner Lebenslinie maß etwa fünf Zentimeter, und Wilbur rätselte, ob er diese Leere bereits hinter oder noch vor sich hatte. Er hielt es auch für möglich, dass Fedora sich irrte, dass es keine zwei Wege für ihn geben würde und das abrupte Ende der Linie seinen baldigen Tod bedeutete. Dann verwarf er diesen Gedanken und zog die Seriosität der gesamten Veranstaltung in Zweifel, rief sich die gemütliche, letztendlich aber absurde Szenerie in der fremden Küche in Erinnerung und wunderte sich nachträglich über seine Gutgläubigkeit und Naivität.
«Glauben Sie, dass der Lebensweg, das Schicksal eines Menschen in seiner Handfläche eingraviert ist?«fragte er den Taxifahrer, einen vielleicht sechzigjährigen, fast kahlköpfigen Mann, der laut dem am Armaturenbrett angebrachten Ausweis Fernando Ramirez hieß.
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