Im Laden fühlte sich Alice Wilbur am nächsten. Sie liebte es, ihn mit Kunden sprechen zu hören, und war selber dankbar für jedes Wort, das er mit ihr wechselte, auch wenn der Grund dafür meistens geschäftlicher Natur war. Zuzusehen, wie er mit schlafwandlerischer Sicherheit Artikel aus den überfüllten Regalen holte, in den Katalogen nach ausgefallenen Produkten suchte oder die Kasse bediente, erfüllte sie mit Freude, die nur durch den Umstand getrübt wurde, dass sie sich der Vergänglichkeit dieses Glücks bewusst war. Aus dem zurückhaltenden, aber neugierigen und offenen Jungen, den sie vor mehr als einem Jahr in ihr Leben geholt hatte, war ein verschlossener Mann geworden, für dessen Eigentümlichkeiten, Komplexe und Probleme sie zwar reichlich Erklärungen, aber keine Lösungen hatte.
An einem jener Sonntage, an denen es regnete und Wilbur schon am Morgen die Wohnung verließ, um sich in einem Kino in Manhattan die Matineevorstellung anzusehen, traf Alice eine Frau, die gelegentlich als Kundin in den Laden kam und in ihrer Freizeit Pullis, Schals und Mützen aus naturbelassener Wolle strickte. Ruth Cole war vierzig und geschieden und lebte mit ihren drei Kindern ein paar Straßen weiter in einer Wohnung über der Autowerkstatt ihres Bruders. Morgens arbeitete sie im Büro der Werkstatt, nachmittags strickte sie, und alle paar Monate verkaufte sie ihre Waren unter einem Goodyear -Sonnenschirm auf dem Markt. Alice lud sie zum Kaffee ein und schlug ihr vor, die Sachen im Laden anzubieten, und Ruth Cole gefiel die Idee. Weil der Verkaufsraum für weitere Artikel zu klein war, sah Alice sich in der Straße nach einem geeigneten Objekt um und fand eine ehemalige Zoohandlung, die zur Miete ausgeschrieben war.
Sie erzählte Wilbur von ihrem Plan, und am selben Abend trafen sie den Makler und besichtigten den Laden, in dem noch immer leere Käfige und Aquarien standen und der nach Fischfutter roch. Alice war voller Energie, redete von einem neuen Boden, indirektem Licht und flexiblen Regalsystemen, von Kleidern aus biologischer Baumwolle und Seide und schließlich davon, auch Gesundheitsschuhe ins Sortiment aufzunehmen, vielleicht sogar Hüte und Handtaschen aus natürlichen Materialien. Der Makler, ein übergewichtiger Mann mit schulterlangem grauem Haar, bejubelte jeden von Alices Einrichtungsvorschlägen mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme und ließ ihre spontan geäußerte Idee, in dem Laden auch Teppiche aus Hanffasern und Sisal anzubieten, im gleißenden Licht seiner uneingeschränkten Zustimmung leuchten.
Während die beiden laut zählend den mit Sägemehl, Stroh, fleckigen Zeitungen und Kassenzetteln bedeckten Boden abschritten, den idealsten Standort für den Kassentisch berieten und beim Fund eines hinter einem Rollschrank zerquetschten und in der trockenen Heizungsluft mumifizierten Hamsters in kindisches Gelächter ausbrachen, stand Wilbur bei der Eingangstür und sah auf die Straße, wo ein heftiger Regen den Müll durch die Rinnsteine schwemmte. Es war dunkel, Leute ohne Schirm hasteten vorbei, das Geräusch von Reifen, die durch Pfützen glitten, drang herein. PET SHOP A. ZEGOYAN stand auf der Schaufensterscheibe, darunter, mit abwaschbarer roter Farbe hingepinselt, HUNDEWELPEN. Wilbur erinnerte sich an die jungen Hunde, die sich das Schaufenstergehege mit Kaninchen geteilt und die Scheibe abgeleckt hatten, wenn man draußen die Hand dagegen hielt. Er war nie lange vor dem Geschäft stehen geblieben und irgendwann nur noch auf der anderen Straßenseite gegangen, um sich den Anblick der Hunde zu ersparen, deren Verkaufschancen in dem rasenden Tempo schwanden, in dem ihre Körpergröße zunahm.
Den letzten Tagen vor der Schließung des Ladens hatte er bewusst keine Aufmerksamkeit geschenkt und fragte sich jetzt, ob es einen Räumungsverkauf, drei für zwei Kanarienvögel und Zierfische im Dutzend billiger gegeben hatte. Er hätte gerne gewusst, was aus den Hunden geworden war und aus der Schildkröte, die neben der Kasse in einem Glaskasten ihre Jahre abgesessen hatte, ein jämmerliches und ergreifendes Symbol für die Zähigkeit, mit der sich der Laden am Leben hielt, nur um irgendwann doch einzugehen.
«Wilbur, was meinst du, die hier raus?«fragte Alice und klopfte gegen eine Wand, an der ein Plakat mit Kanarienvögeln und Sittichen, deren Namen und Preisen hing.
Wilbur zuckte mit den Schultern, nickte dann und sah wieder auf die Straße. Am Morgen war ein Brief aus England in der Post gewesen. Norma Kennedy schrieb ihm, dass Matthew Fitzgerald im Jahr zuvor an einer Lungenentzündung gestorben sei. Nach seinem Tod war sie umgezogen und auf eine lange Reise durch Indien und Nepal gegangen und hatte Wilburs Brief erst nach ihrer Rückkehr vor ein paar Tagen erhalten. Matthew, schrieb sie, habe ihr oft von ihm erzählt und sich gefragt, wo er wohl sei und was er aus seinen Möglichkeiten und seinem Leben mache. Es tue ihr unendlich leid, dass sie ihm diese traurige Nachricht übermitteln müsse, und wenn er wolle, könne er irgendwann nach Dover kommen und das Cello holen, das Matthew ihm hinterlassen habe. Dem Brief lag eine Schwarzweißfotografie bei, auf der Matthew ihm so heiter und lebendig entgegenblickte, dass Wilbur in Tränen ausgebrochen war.
Alice hatte er davon nichts erzählt. Sie hätte die Trauer um Matthew zu seinen anderen Problemen getan und ihn gebeten, alles vor ihr auszuschütten, damit sie es gemeinsam betrachten und bestimmen konnten. Vor ein paar Wochen hatte er ihr Geld aus der Handtasche genommen und dabei ein Taschenbuch über Jugendpsychologie gefunden, und er hatte keine Lust, Objekt ihrer angelesenen Missverständnisse zu werden.
Nach der Besichtigung des Ladens tranken sie in einem Restaurant in der Nähe einen Kaffee und redeten über Alices Erweiterungsvorhaben. Wilbur machte keinen Hehl daraus, dass er nichts davon hielt. Er vertrat den Standpunkt, Trevors und Clives Tradition fortzuführen sei Verpflichtung genug und ein zusätzlicher Laden nur mit finanziellen Risiken verbunden. Aber Alice plädierte für Veränderung und gegen Stillstand, als halte sie eine Rede vor Wirtschaftsvertretern. Sie wollte mit Ruth Cole das neue Geschäft auf die Beine stellen, eine eigene Modelinie entwerfen und noch mehr Strickerinnen beschäftigen. Sie redete von unerfüllten Träumen, von kreativen Möglichkeiten und davon, dass sie in ihrem Leben noch etwas anderes sehen wolle als ungeschälten Reis und Dörrpflaumen. Dann bot sie Wilbur an, die Geschäftsleitung des Reformkostladens zu übernehmen.
«Du wirst der Boss«, sagte sie und war versucht, Wilburs Hand über den Tisch hinweg zu berühren, ließ es dann aber bleiben.»Du kannst Leute einstellen. Und entlassen. «Sie lachte nervös und verlegen.
Wilbur sagte nichts. Der heftige Schauer war in feinen Nieselregen übergegangen. Vom gelben Neonlicht des Eingangs gefärbte Tropfen rannen in willkürlichen Bahnen über die Scheibe, Autos trieben summend auf Pfützen vorüber.
«Ich bin sicher, du schmeißt den Laden mit links«, sagte Alice nach einer Weile.»Ach, und weißt du, wer gerne mit dir arbeiten würde?«Sie wartete, obwohl ihr klar war, dass Wilbur nicht antworten würde.»Jenna. Du weißt schon, Hoffman? Sie kauft immer diesen Tee, diese Kräutermischung. Sie studiert, drittes Semester Politikwissenschaften. Im Sommer hat sie mich wegen eines Aushilfsjobs gefragt, aber da brauchten wir niemanden. «Alice rührte in ihrer Tasse, obwohl kaum noch Kaffee darin war. Sie sah sich nach dem Kellner um, aber der war im hinteren Teil des Lokals verschwunden, nachdem er die Bestellung gebracht hatte, und nicht mehr aufgetaucht.
Wilbur wusste, wer Jenna Hoffman war. Nur wenige Zentimeter größer als er, behandelte sie ihn, als ginge er auf die Highschool. Sie sah nicht besonders gut aus, zumindest nicht in Wilburs Augen, machte ihre mangelnde Attraktivität jedoch mit einem Selbstbewusstsein wett, das er für Arroganz und Alice offenbar für Pfiffigkeit hielt. Alice hatte immer wieder versucht, ihn mit Jenna zu verkuppeln, hatte mit ihr über Filme gesprochen und erwähnt, wie gerne Wilbur ins Kino ging. Einmal hatte sie es so eingerichtet, dass Jenna sie wie zufällig im Park traf und den ganzen Sonntagnachmittag mit ihnen verbrachte. Er konnte Jenna Hoffman nicht leiden, und die Vorstellung, mit ihr zusammenzuarbeiten, ließ ihn erschauern.
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