Ich werde meinen Namen ändern lassen, McDermott statt Sandberg. Ich will keine Briefe mehr, keine schlechten Neuigkeiten, mein Bedarf ist gedeckt. Ich muss mich von niemandem verabschieden, niemand begrüßt mich, weil ich längst angekommen bin. Ich beklage mich nicht, ich brauche keine tröstenden Worte, keine mitfühlenden Blicke. Ich komme zurecht, kümmere mich um meine Angelegenheiten. Das ist mein Plan.
Trevor und Clive waren der Ansicht, der bevostehende Jahrtausendwechsel sei ein guter Zeitpunkt für grundlegende Veränderungen. Im April zogen sie nach Cape Coral, Florida, nachdem sie den ganzen Februar mit der Suche nach einem Haus verbracht hatten. Harold trennte sich von seinem Besitz auf Long Island und kaufte mit einem Teil des Erlöses den Reformkostladen. Alice wurde Geschäftsführerin, Wilbur ihr Stellvertreter. Mehr zum Spaß als aus Notwendigkeit ließen sie Visitenkarten drucken, auf denen in dunkelgrüner Schrift das alte Firmenlogo prangte. Obwohl Trevor und Clive bewegt protestiert hatten, behielt der Laden seinen angestammten Namen: Lombard & Cohen, Gesundkost.
Gegen die Idee von Alice, alles moderner zu gestalten, die Fassade zu renovieren und den verwitterten Schriftzug über der Tür einem neuen, kürzeren und griffigeren wie zum Beispiel Fitfood oder Organische Oase zu opfern, lief Wilbur Sturm, beschämt angesichts ihres mangelnden Taktgefühls gegenüber Trevor und Clive und entsetzt über ihren fragwürdigen Geschmack. Er bat um eine Woche Zeit, während der er die Fassade in der alten Farbe neu strich, die halbmeterhohen Buchstaben aus verzinktem Blech aufpolierte und der Eingangstür sowie den Schaufensterrahmen einen neuen Anstrich verpasste. Das Resultat überzeugte Alice und rührte Trevor und Clive zu Tränen, als sie in Florida die Fotos betrachteten.
Alice und Wilbur arbeiteten sechs Tage in der Woche, und wäre es nach Wilbur gegangen, hätten sie den Laden auch am Sonntag geöffnet. Er dachte noch ab und zu an seinen Vater, aber der Wunsch, ihn zu finden, war weg. An die Stelle der zornigen, ungeduldigen Sehnsucht waren Enttäuschung, Resignation und Wut getreten, und eine maßlose Leere, die Wilbur mit Arbeit im Laden und in der Bibliothek füllte. Von seinem ersten Lohn nahm er Fahrstunden und kam sich selbst im kleinsten Auto lächerlich vor, kaum saß er hinter dem Steuer. Trotzdem bestand er ein paar Wochen später die Prüfung, kaufte aber statt eines gebrauchten Autos ein neues BMX-Fahrrad, das drei Tage später am Eingang zum Marine Park gestohlen wurde, wohin er es, da er nicht Rad fahren konnte, geschoben hatte. Aufgrund dieses Diebstahls, der Tatsache, dass er den Straßenverkehr hasste, und der Erkenntnis, die Lernfahrten nur deshalb überlebt zu haben, weil er seine Intelligenz über seine Emotionen stülpen konnte wie einen Helm, fasste er den Entschluss, den Rest seines Lebens als Fußgänger und Passagier zu verbringen.
Manchmal stieg er nach der Arbeit in einen Bus und ließ sich irgendwohin fahren, wechselte planlos die Linien und landete an Orten, an denen er nie zuvor gewesen war, nicht einmal, als er nach seinem Vater gesucht hatte. Seit Monaten hatte niemand mehr angerufen und behauptet, Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen. Trotzdem passierte es immer wieder, dass Wilbur an einer Haltestelle ausstieg und einem Mann hinterherrannte, nur um in sein Gesicht zu sehen. Er hasste sich jedes Mal dafür, aber unterdrücken konnte er den Zwang nicht. Einmal hatte er einen Mann über drei Blocks verfolgt und sogar angesprochen, weil er in der dürren, verkommenen Gestalt seinen Vater zu erkennen glaubte. Darauf fühlte er sich so elend, dass er in die nächste Bar ging und sich, nachdem er seinen ansonsten nutzlosen Führerschein einer Reihe von ungläubigen Angestellten und dem herbeigerufenen Geschäftsführer gezeigt hatte, mit zwei Caribbean Cool Wave , die es mit Sonnenschirm und Trinkhalm gab, besinnungslos trank. Vor jedem Schluck an Alice zu denken, hielt ihn ebenso wenig von seinem ersten Alkoholdelirium ab wie die begründete Vermutung, dass sein Vater sich totgesoffen hatte.
Der Sommer ging vorbei wie ein langer Fieberschub, wie ein Traum, aus dem Wilbur ohne Erinnerung erwachte. Die Arbeit im Laden, die Beschränkung auf diesen einen Flecken Welt und seine gelegentlichen, diszipliniert dosierten Abstürze in wechselnden Bars hatten ihn stetig der Wirklichkeit entzogen. Das wahre Leben spielte sich vor ihm auf der Straße ab, es lärmte und roch und ließ das Schaufensterglas erzittern und Wilbur doch ungerührt. Menschen betraten den Laden und wurden von ihm bedient, effizient und fachkundig und mit freundlicher Distanziertheit. Wilburs Stadt schrumpfte auf die immergleichen Orte, was er tat, war eine Liste aus Wiederholungen, seine Gedanken kreisten um denselben unbewohnten Planeten, tagaus, tagein und jede Nacht. Nichts war ihm zu viel, kein Kunde zu anspruchsvoll, keine Frage zu banal, aber es war ihm auch nichts zu wenig, keine Woche zu leer, kein Monat zu unbedeutend.
An seinem Buch arbeitete er mit Fleiß und Disziplin, aber ohne Leidenschaft. In der Dunkelheit der Kinos kam er manchmal zu sich und stellte sich vor, wie das Leben draußen sei und wie man sich darin bewegte. Er begann, die Filme nicht mehr zu verstehen, oder verstand sie falsch, verließ mitten in der Vorführung den Saal und trat benommen und ratlos auf die Straße hinaus. In der Wohnung legte er sich zum Schlafen hin, während Alice am Küchentisch über der Buchhaltung saß und vergeblich darauf wartete, dass er mit ihr sprach. Sonntags begleitete er sie in den Park, weil er gegen ihre fordernde Lebenslust nicht ankam und weil es ein winziges Eingeständnis an ihr Bedürfnis nach Mustern war, nach tröstlichen Zeichen von Beständigkeit und Normalität.
Alice wusste nicht, wie sie mit Wilburs Verstocktheit umgehen sollte, tat sein Schweigen mal als pubertäre Verunsicherung ab, mal als Folge der ergebnislosen Vatersuche. Sie las heimlich Bücher von Jugendpsychologen und befolgte deren Rat, Wilbur zu nichts zu drängen, auch nicht zu einem Gespräch. Und sie suchte eine größere Wohnung.
Zwei Monate später bezogen sie mit ihren Habseligkeiten eine Dreizimmerwohnung in einem achtgeschossigen Apartmenthaus in Midwood im Süden Brooklyns. Eine gute Kundin des Reformkostladens war eine der Besitzerinnen des Hauses und revanchierte sich dafür, dass Alice sie mit einer ausgeklügelten Diät und homöopathischen Mitteln fast vollständig von einer Gichterkrankung geheilt hatte. Wilbur durfte sich sein Zimmer aussuchen und nahm das kleinere zur Straße hin, weil er außer einer Holzkiste keine Möbel besaß und im dritten Stock der Blick aus keinem der Fenster lohnend war. In einem Trödelladen kauften sie ein Bett, einen Schreibtisch und einen Stuhl für Wilbur und einen Polstersessel, damit sie beim Fernsehen nicht länger zusammen auf dem Sofa sitzen mussten. Alice strich die Küchenwände gelb und stellte Pflanzen auf die Fenstersimse. Sie hängte Bilder auf und gerahmte Fotos, sie fand eine alte Kommode, die sie im Keller ablaugte und schliff und ölte und in ein Schmuckstück verwandelte, und sie fuhr bis nach Connecticut, um einen Teppich aus gefärbtem Bast zu kaufen.
Wilbur ließ die Wände in seinem Zimmer, wie sie waren, gebrochen weiß und mit den Sternzeichen alter Nagellöcher überzogen. Er stellte seine Bücher und Colms Nashorn in die Regale und schob den Koffer mit den restlichen Andenken an seine Vergangenheit unter das Bett. Natürlich entging es ihm nicht, wie sehr Alice den Bezug der neuen Wohnung als Versprechen auf Glück und Harmonie empfand, und er gab sich Mühe, ihre oft angestrengt gute Laune nicht zu trüben. Aber so gemütlich Alice alles einrichtete, so wenig konnte sie verhindern, dass Wilbur sich von ihr entfernte. Statt nach Hause zu kommen und mit ihr zu essen, setzte er sich lieber in ein Kino, eine Spielhalle oder Kneipe, von wo er erst spätnachts heimkehrte, wenn Alice längst schlief. Regnete es am Sonntag, nahm er das als Grund, die gemeinsame Fahrt zum Park auszulassen und stattdessen alleine loszuziehen. Wenn Alice ihn fragte, was er vorhabe, erhielt sie die Antwort, er wolle am Buch arbeiten, und ahnte nicht, dass die Biografie mittlerweile über vierhundert handgeschriebene Seiten dick und weit entfernt von einem Abschluss war.
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