«Aber du hast in Personalfragen natürlich absolut freie Hand«, sagte Alice, als sie Wilburs Gesichtsausdruck von unbeteiligt zu missmutig wechseln sah.
«Ich finde alles gut, so wie es ist«, sagte Wilbur nach langem Schweigen und verschränkte die Arme vor der Brust. Um über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nicht weiter nachdenken zu müssen, las er die große, handgeschriebene Speisekarte in Alices Rücken. Er hatte Hunger, aber er wollte dieses Gespräch nicht mit einer Mahlzeit in die Länge ziehen.
«Ich doch auch«, sagte Alice. Offenbar war es ein Fehler gewesen, Jenna Hoffman zu erwähnen, und sie war froh, dass Wilbur wieder den Mund aufmachte.»Aber ich will etwas Neues ausprobieren. Ruth und ich freuen uns auf dieses Projekt. «Sie winkte dem Kellner, der endlich aufgetaucht war und wie zufällig in ihre Richtung blickte, und zeigte auf die beiden leeren Tassen.
«Was sagen Trevor und Clive dazu?«
«Sie wissen noch nichts davon. Es ist ja alles noch gar nicht spruchreif. Außerdem hat der neue Laden nichts mit den beiden zu tun. Er wird etwas völlig Eigenständiges.«
Wilbur sah auf die Straße, wo eine Gruppe alter Frauen in durchsichtigen, von den Scheinwerfern und Rücklichtern der Autos gesprenkelten Regenumhängen vorbeischwebten wie plumpe Elfen. Durch die Wasserschlieren auf dem Glas sah er einen großgewachsenen, durchnässten Mann, der sein Vater hätte sein können, und widmete sich wieder der Speisekarte.
«Harold wird mir einen Kredit geben«, sagte Alice.»Er findet die Idee vielversprechend.«
«Na dann wäre ja alles geregelt«, sagte Wilbur, stand auf und prallte beinahe mit dem Kellner zusammen, der zwei Tassen Kaffee brachte.
«Wilbur, jetzt warte doch!«rief Alice, aber Wilbur ging zwischen den Tischen hindurch zur Tür und verließ das Lokal. Alice bezahlte den Kellner und wartete nicht auf das Wechselgeld, aber als sie auf die Straße trat, war Wilbur weg.
Noch im November unterschrieb Alice den Mietvertrag für die ehemalige Zoohandlung und begann mit dem Umbau. Wilbur stellte Ernest Shelby ein, einen dreiundfünfzigjährigen Mann, der zwei Jahre zuvor seine Stelle als Filialleiter eines Supermarkts verloren und seither als Parkplatzwächter, Vertreter und Kurierfahrer gearbeitet hatte. Er war glatzköpfig und korpulent, und wenn er mit Kunden scherzte, klang es, als bewerbe er sich für die Sprechrolle eines Bären oder Gnoms in einem Trickfilm. Seine Frau Rebecca, dreifache Mutter, ehemalige Kugelstoßerin und ausgebildete, aber arbeitslose Sportlehrerin, die bei einer Cateringfirma jobbte, half beim Umbau des neuen Ladens. In der ersten Woche mussten der alte Bodenbelag entfernt und eine Mauer eingerissen werden, und Rebecca erledigte diese Arbeiten mit einem Eifer und konzentrierten Groll, die ahnen ließen, was sie in ihrem Alltag vermisste.
Obwohl Wilbur die Idee mit dem zweiten Geschäft noch immer nicht guthieß, stritt er sich mit Alice nicht mehr über das Thema. Je mehr Gründe gegen die Expansion er in traurigen Bars und schlaflosen Nächten auflistete, wirtschaftliche und diffus emotionale, desto bewusster wurde ihm, dass er unrecht hatte und dass Alices teilweiser Rückzug aus dem Reformkostladen nur seinen eigenen aus dem schwierigen Zusammenleben mit ihr spiegelte. Die Zuneigung und Unterstützung, die er von Alice erfuhr, das grenzenlose Vertrauen, das sie in ihn hatte, und die Hoffnungen, die sie für seine Zukunft hegte, das alles erschien ihm wie eine tonnenschwere Last, eine riesige Hypothek, die einzulösen er sich außerstande sah. An guten Tagen nahm er ihre Liebe teilnahmslos und mit schlechtem Gewissen hin, wenn er sich mies fühlte, verloren und als Objekt verschwendeter Zuneigung, verachtete er sie für ihre Sanftheit und Geduld und ihren Glauben an ihn. Jedes Gespräch, das sie vorsichtig begann, jedes Lieblingsessen, das sie ihm bereitete, jede ihrer zaghaften Berührungen bewirkte das Gegenteil des von ihr Beabsichtigten und weckte in ihm den Wunsch, sie anzuschreien und ihr zu zeigen, wie mies und leer er in Wirklichkeit war und wie wenig Sinn es hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. In solchen Momenten wünschte er sich weit weg, um Alice nicht wehzutun, sehnte sich zurück in die Zeit, in der er mit Conor auf dem Hügel vor Orlas Haus saß, stumm und auf einfältige, ahnungslose Weise glücklich.
Bei einer der von den Mechanismen des Zufalls gesteuerten Busfahrten gelangte Wilbur in eine Gegend von Queens, die mit ihrer geduldig ertragenen Traurigkeit und dem schläfrigen Willen, nicht vollends in Verwahrlosung zu versinken, etwas Rührendes hatte. Obwohl ein kalter Sprühregen niederging, lief Wilbur eine Stunde lang durch die Straßen, vorbei an Läden, die Autoteile verkauften, Perücken und Tapeten, die Kostüme verliehen und auf Schildern billigen Zahnersatz und Sofortkredite versprachen und deren Schaufenster überfüllte blinkende Guckkästen waren, Einblicke in vergehende Welten aus fröhlicher Schäbigkeit und trotzigem Zukunftsglauben.
In vielen Vorgärten standen auf gemähten, doppelbettgroßen Rasenstücken bunte Vogelhäuschen, Fahnenmasten und Gipsrehe, das Licht Hunderter Glühbirnen schneite auf ein frühes Rentier, in einer offenen Garage lag, groß wie ein Auto, ein Weihnachtsmann aus Kunststoff. In einem winzigen Laden verkauften drei schwarze Frauen Hosen, die es nur in einer Farbe und einer Größe zu geben schien, ein anderes Geschäft beschränkte sein Angebot auf Schaufeln, Blecheimer und Taschenlampen, als stünde eine Katastrophe oder Goldfieberepidemie bevor. Ein kleiner, bebrillter Mann sah in einem Friseursalon zu, wie zwei Kinder einen Tanz übten, den Wilbur für Walzer hielt. Der Mann unterbrach das Paar, griff sich das übergewichtige Mädchen und zeigte dem Jungen die richtige Schrittfolge, wobei er, um dem schwankenden Busen auszuweichen, den kahlen Kopf nach hinten legte. Der Junge sah aus dem winzigen, hell erleuchteten Ballsaal hinaus in die Nacht und traf den Blick von Wilbur, der stehen geblieben war und jetzt eilig weiterging.
Als er müde wurde und fror, setzte Wilbur sich in eine Bar, wo er und zwei alte Männer in roten Pförtneruniformen die einzigen Gäste waren. Wilbur bestellte einen Hawaiian Sundowner , der in einem hohen, bauchigen Glas, der Rand in Zucker getaucht, serviert wurde. Weil der Trinkhalm fehlte und es ihm egal war, was man hier von ihm hielt, bat er um einen und bekam auch noch einen Rührstab in Form eines Spießes, auf dessen Ende ein Teufel hockte. Die alten Männer, die in ihren Mänteln wie Soldaten eines geschlagenen Heeres aussahen, prosteten ihm zu und wollten wissen, was er da im Glas habe. Wilbur zählte ihnen die Zutaten auf, Rum, Blue Curaçao, Ananas- und Kokosnusssaft, und die Männer schüttelten sich und tranken ihr Bier.
Zwei Stunden und zwei Drinks später verließ Wilbur die Bar und machte sich auf die Suche nach einem Kino oder einer Bushaltestelle. Es regnete nicht mehr, dafür wehten eisige Windstöße zwischen die Häu ser. Zeitungsseiten wurden hochgehoben und stiegen in den Nachthimmel, gespenstische Vögel mit beschriebenen Flügeln. In einer Straße, in der es nur Wohnhäuser und keine Läden und Kneipen gab, sah Wilbur auf einer schwarzen Tür eine rote Hand, die mit Linien und Symbolen bedeckt war. Unter der Hand stand in gelber Schrift HANDLESEN und die Aufforderung BITTE EINTRETEN. Eine Weile blieb Wilbur, die Hände in den Taschen der Daunenjacke und mit den Füßen auf der Stelle tretend, vor dem Haus stehen, dann trat er ein.
Im Flur fand er keinen Lichtschalter und wartete erneut einige Atemzüge lang, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch nach Essen und Tabak, und von weit her drangen die Stimmen, die Musik und der Applaus einer Fernsehshow an Wilburs Ohren. Er fand den Schalter und drückte ihn, worauf ein paar Lampen angingen. Licht sickerte durch einen Bodensatz trockener Insektenleiber, der sich in den Schalen gesammelt hatte. An der Wand, an der schief die verbeulten Briefkästen hingen und Fahrräder lehnten, war die Hand aufgemalt und ein Pfeil, dem Wilbur folgte. Bald stand er vor einer Kopie der Haustür, deren Beschriftung ihn diesmal bat, fünf Mal zu klingeln. Die Wand um die Tür war blau gestrichen und mit gelben Sternen übersät, die, als sich das Licht automatisch ausschaltete, im Halbdunkel nachleuchteten. Wilbur, dem der Alkohol einen fragwürdigen Mut verliehen hatte, klingelte tatsächlich, erschrak dann aber, als in der Wohnung die Glocke schrillte. Trotzdem drückte er den Knopf weitere vier Mal und trat einen Schritt zurück, bereit, augenblicklich umzudrehen und wegzurennen.
Читать дальше