«Was?«fragte der Fahrer und drehte dabei den Kopf nach hinten, was bedeutete, dass nur noch Wilbur, der seine Frage augenblicklich bereute, auf die Straße sah. Der Gedanke, in dieser Sekunde das Niemandsland am Ende seiner Lebenslinie zu erreichen, schoss Wilbur durch den Kopf, aber dann widmete sich der Fahrer wieder dem Verkehr, der auf der Flatbush Avenue dichter geworden war.
Sie hielten an einer roten Ampel, und Wilbur beugte sich nach vorne und zeigte dem Fahrer seine Handfläche.»Die Linien auf unserer Hand, glauben Sie, man kann darin die Zukunft lesen?«
«Oh, die Zukunft!«rief der Mann und hob beide Hände, als wolle er sich ergeben,»die Zukunft, nur Gott kann sie…«, er suchte nach einem Wort,»machen!«Er nahm das Metallkreuz, das, zusammen mit einem Rosenkranz und einem Stoffwimpel der New York Yankees , am Rückspiegel hing, zwischen die Finger und hielt es so, dass Wilbur es sehen konnte.»Alles andere, es tut mir leid, ist Humbug, Hokuspokus!«Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr los.»Meine Meinung«, fügte er halb entschuldigend und halb trotzig hinzu.
Wilbur lehnte sich zurück und schloss die Augen. Vielleicht, so dachte er, befand er sich längst im flachen Abgrund zwischen seinen Lebensstraßen, und es spielte keine Rolle, ob er ein Ziel verfolgte oder das Steuer einfach losließ.
An dem Abend, an dem die Frau anrief, die Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen vorgab, war Wilbur nicht zu Hause. Er saß in einer Spielhalle und fütterte Automaten mit Geld, um Raumschiffe in Feuerbälle und feindliche Planeten in unbewohnte Trabanten zu verwandeln. Zuvor hatte er in einer Bar, wo auf einer Großleinwand eine MTV–Verkupplungsshow lief, gerade so viel Wodka getrunken, dass er nicht daran denken musste, wie wenig sein verkorkstes Leben mit denen im Fernsehen zu tun hatte, und er später trotzdem einen Joystick würde bedienen können.
Als Alice ihm am nächsten Morgen von dem Anruf erzählte, weigerte Wilbur sich, ihr zuzuhören. Weder ihr Versuch, ihn von der Glaubwürdigkeit der Frau zu überzeugen, noch ihre Absicht, am Abend alleine zu dem vereinbarten Treffpunkt in der Bronx zu fahren, falls er nicht mitkäme, konnten etwas an Wilburs Haltung ändern. Er sagte ihr nicht, wie leid er es war, sich die Vermutungen, Behauptungen und Lügen dieser Leute anzuhören, und auch nicht, wie weh es getan hatte, jedes Mal enttäuscht zu werden. Er erzählte ihr nichts von der lähmenden Verzweiflung, die ihn jeweils befallen hatte, nachdem sie mit diesen guten Menschen, Aufschneidern und Wracks gesprochen hatten, nur um erneut vor dem Nichts zu stehen.
Im Badezimmer wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und kämpfte gegen die brennende Versuchung, Alice anzubrüllen, ihr ihre naive, gefühlsduselige Zuversicht, was ihn betraf, vorzuwerfen und sich ein für alle Mal aus dem Seidenkokon ihrer Anteilnahme und Güte zu befreien. Stattdessen ließ er sie mit dem Frühstück, das sie jeden Morgen in der Hoffnung auftischte, er würde sich zu ihr setzen, alleine und fuhr mit der U-Bahn zum Laden, den Ernest schon vor einer Stunde aufgesperrt hatte. Während der Fahrt kritzelte er Billige Wohnung gesucht, bitte an der Kasse melden auf einen Zettel und zerknüllte ihn, als er ausstieg. Denselben Wortlaut schrieb er einige Stunden später auf die Rückseite eines Bestellformulars, das er an die Korktafel pinnte.
Nach der Arbeit aß er in einem indischen Schnellimbiss und setzte sich danach in ein Kino, in dessen Sälen zwei Wochen lang Filme von Regisseuren wie Don Siegel, Ridley Scott, Arthur Penn, Sam Peckinpah und Robert Aldrich gezeigt wurden. Vier Stunden lang ließ er sich einlullen von den vertraut fremden Farben, den grobkörnigen, zerkratzten Bildern, die ihn mit spiegelnden Karosserien, weiten blauen Himmeln, Rauchsäulen, Explosionen und Mündungsfeuern und dem schwermütigen Lächeln tötender und sterbender Männer blendeten und mit Lärm und infernalischer Stille übergossen, dann stand er wieder auf der Straße und wusste nicht, wohin mit seiner Sehnsucht nach etwas, das ihn am Leben hielt. Dreißig Blocks ging er zu Fuß, stand ewig vor dem Haus, frierend und müde, drehte sich um und ging nochmals zwanzig Blocks in eine andere Richtung, bis er eine Bar fand, die schäbig genug war, um seinen Ansprüchen zu genügen.
Die Kellnerin, die ihm den Tropical Thunder mit Trinkhalm, Quirler und Fruchtspieß brachte, setzte sich eine Weile zu ihm, sagte, er sei ein hübscher Junge, und erzählte eine Geschichte von Liebe und Betrug, die schrecklich endete. Wilbur vergaß, wie viel er vertragen konnte, trank, was die Frau ihm hinstellte, und hörte ihr zu und der Musik, die, einer knisternden Galaxie gleich, über seinem Kopf schwamm. Am Tresen stritten sich lustlos zwei Männer, in einer Ecke lag schlafend ein schwarzer Hund.
Wilbur versank und kam erst wieder an die schaukelnde Oberfläche, als er am Arm der Kellnerin vor der Bar in der eisigen Kälte stand und vom eigenen Körper wachgerüttelt wurde. Ein Auto, ein gelbes schwankendes Boot, glitt heran und nahm die beiden auf. Wilbur kippte zur Seite, legte den Kopf in den Schoß der Kellnerin und schlief erneut ein.
Als er aufwachte, aus einer bodenlosen Bewusstlosigkeit zu sich kam, lag er angezogen auf einem Sofa, zugedeckt mit einer Wolldecke, deren Fransen sich in seinem Atem bewegten wie die Wimpern eines Tieres. Sein Mund war trocken, vor seinen Augen zuckten winzige Blitze. Er hatte Durst, der Gedanke an ein Glas Wasser löste Wellen von Verlangen in ihm aus. Als er den Kopf bewegte, rutschte ein Schmerz gegen den Schädel und vibrierte minutenlang. Wilbur blinzelte. Von der Decke hing eine Lampe, eine dunkle Blume an einem langen, dünnen Stiel, über deren Kelch er schwebte.
Er dämmerte weg und schreckte im nächsten Augenblick hoch, stöhnte leise auf unter der Qual, die er sich selbst bereitete, bewegte die Füße und setzte sich auf. Seine Schuhe standen am Boden, er fiel beinahe über sie und schlüpfte hinein, unfähig, mit den Schnürsenkeln etwas Vernünftiges anzufangen. Durch ein Fenster fiel farbloses Licht in den Raum, den das Sofa, ein Tisch, ein Sessel und eine Kommode fast bis auf den letzten Fleck füllten. Wilbur tappte auf ein helles Rechteck zu, das er für die Küche hielt, landete im Badezimmer und trank kaltes, nach Metall schmeckendes Wasser, mit dem er sich anschließend das Gesicht wusch.
Eine Weile stand er mit den Händen auf den Waschbeckenrand gestützt da und vermied es, in den Spiegel zu sehen. Dann bewegte er sich tastend zurück ins Wohnzimmer, lauschte auf Geräusche und schob dann vorsichtig eine angelehnte Tür auf, hinter der, mit ausgebreiteten Armen das weiße Rechteck des Betts umschlingend, die Kellnerin lag, leise ächzend in einem erschöpften Schlaf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das mit dem Laken verschmolz, und ihr kurzes schwarzes Haar schimmerte im schwachen Licht des Weckers. Wilbur setzte sich auf den Boden und betrachtete die Frau. Vermutlich hatte sie ihm ihren Namen genannt, aber er konnte sich nicht daran erinnern.
Als sie sich im Traum seufzend von ihm wegdrehte, stand er auf und verließ das Zimmer. Er nahm eine Zwanzigdollarnote aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Er wollte eine Nachricht schreiben, dass das Geld für die Taxifahrt sei, fand aber weder Zettel noch Stift. Draußen fuhr polternd ein Zug über eine Hochbrücke, weit weg tönte die Sirene eines Feuerwehrwagens. Wilbur widerstand dem Drang, sich zurück auf das Sofa zu legen, nahm seine Daunenjacke und ging aus der Wohnung. Im Halbdunkel des Flurs suchte er nach dem Namen auf dem Klingelschild, aber da war nichts. Zurück in der Kälte lief er ein paar Blocks, bis irgendwann ein Taxi hielt und ihn mitnahm.
Zu Hause trank er im Schein des offenen Kühlschranks Mineralwasser aus der Flasche. In seinem Kopf schwelte etwas, das in ein paar Stunden ein heftiger Kater sein würde. Draußen schreckte die Stadt aus dem Halbschlaf. Das Summen Hunderttausender Kaffeemaschinen wurde nur übertönt vom Lärm der ersten Autos und Lastwagen. Eine Alarmanlage trällerte wie ein lauter exotischer Vogel, die Rollgitter von Läden wurden hochgezogen, Zeitungsbündel klatschten auf den Asphalt. Wilbur fror, schloss den Kühlschrank und setzte sich an den Tisch. Neben der Obstschale lag ein Zettel, auf dem ein Name stand, Nathalie Kerkowski, und eine Telefonnummer.
Читать дальше