— Was meinst du? fragte Jakob.
— Das Agieren der Bundesrepublik wird gerechtfertigt. Vielleicht wollen viele gar nicht, daß hier Juden leben, aber das ist der Preis, der zu bezahlen ist, um sich als Rechtsstaat behaupten zu können. Die anderen Folgen der Nazizeit läßt man doch hübsch in Ruhe, wärmt sie jetzt neu und anders auf, indem eben die Opfer der Deutschen, der Bombenkrieg, Schritt für Schritt in den Vordergrund marschieren. Verstehe mich nicht falsch, natürlich bin ich dafür, daß der gestohlene Besitz zurückerstattet wird, meinethalben als Besitz, nicht als Entschädigung. Aber trotzdem verstehe ich, wenn man es bizarr findet. Die Nachkommen der Vertriebenen und Ermordeten bewerben sich um die ausgestrichene Vergangenheit ihrer Vorfahren. Und gibt es ein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Ich bin gar nicht sicher.
— Du lebst doch hier, ist das kein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Und Rückerstattung heißt ja nicht, daß man hier leben muß.
— Nein, man muß hier nicht leben — dann ist das, wofür du arbeitest, allerdings doch eher Entschädigung, meinst du nicht auch? Mieteinnahmen und so weiter. Die lächerlichste Entschädigung für die Zerstörung dessen, was einer für sein Leben halten wollte. Und ich, ich lebe hier als Ungar, als Deutscher, wie du willst. Wer weiß schon, daß ich jüdisch bin? Peter weiß es nicht, Isabelle nicht. Keiner fragt, ich reibe es keinem unter die Nase. Warum sollte ich? Ich weiß selbst nicht genau, was es für mich bedeutet. Bin ich Jude? Ja, natürlich. Vor allem aber Exil-Ungar. Eine Exotik läßt die andere verschwinden. Daß es Israel gibt, läßt mich hier ruhiger leben.
— Warst du jemals in Israel?
— Mehrmals, es gibt bei Tel Aviv ein paar Verwandte, nicht so viele allerdings wie in Budapest. Andras lehnte sich zurück. Sie müssen ihre Geschichten gar nicht erzählen, es genügt, einen Tag mit ihnen zu verbringen. Ein bißchen ähnelt es einer ständigen Prozession, zu Läden und anderen Verwandten und Erledigungen, alles ein ständiges Aufrufen dessen, woran sich nur die Älteren noch erinnern. Für uns zerläuft das, meine Schwester und mein Schwager leben nicht anders als du und Isabelle, nehme ich an. Wenn ich dort bin, kramen meine Eltern aber noch einmal alles aus, was sie mir vorenthalten mußten, weil sie mich weggeschickt haben. Sie bilden sich ein, es wäre die Kindheit, dabei habe ich meine Kindheit ja bei ihnen verbracht. Ich war so lange nicht da, deswegen kleben an mir die Geschichten derer, die weggegangen, und derer, die dageblieben sind. Ihre Sehnsucht, ihr Ehrgeiz, ihre mißratenen Lieben und Ehebrüche und Lügen.
Jakob warf einen Blick aus dem Fenster, als könnte er zu seiner Wohnung hochschauen, die er unverändert vorgefunden hatte.
— Ich frage mich, ob es klug war, nach London zu gehen, sagte er. Es kommt mir vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was.
— Deswegen wolltest du mich sehen? Andras fragte freundlich, beinahe liebevoll.
— Heute nachmittag dachte ich, daß es eine Art Umrißlinie gibt, um das eigene Leben herum, und daß das genügt — aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Die Dinge verändern sich.
— Die Dinge?
Jakob schwieg. Dann sagte Andras: —Warum soll man nicht an zwei Orten leben? Wozu diese angeblichen Entscheidungen? Vielleicht findet man sich irgendwann in seine eigenen Umrisse hinein und begreift, daß es ausreichend ist, mehr als ausreichend.
Am nächsten Tag hatte Jakob einen Termin im Verwaltungsgericht. Hans holte ihn ab, sie gingen essen, beide vorsichtig, enttäuscht, und vergeblich suchte Jakob nach etwas, das er Hans sagen könnte. Komm zu Besuch, wollte er sagen und unterließ es. Hans brachte ihn nach Tegel. Zum Abschied umarmten sie sich lange, und als er Hans lächeln sah, tapfer und betrübt und liebevoll, streichelte er vorsichtig seinen Arm.
Das Flugzeug näherte sich Heathrow, kreiste in einer Schleife über der Stadt, Regent’s Park war zu erkennen, die Great Portland Street, und Jakob versuchte vergeblich, vom Sicherheitsgurt gehalten und von einem strengen Blick der Stewardeß ermahnt, sich aufzurichten, um vielleicht die Devonshire Street zu entdecken.
Die folgenden Tage kam Bentham nicht ins Büro, und keiner sagte Jakob, wo er war.
Es war Magda, die ihn verließ, einstweilen, sagte sie, für eine gewisse Zeit vielleicht nur, um einen unerfreulicheren Abschied zu vermeiden, der sicher käme, wenn man zu lange ausharre und nicht mehr genau wisse, was man erwarte, was man erhoffe. An der Erwartung scheitern wir also, dachte Andras und wunderte sich, daß die kleine, erste Bitterkeit rasch verschwand. Häufiger noch als sonst lief er durch die Stadt, unaufmerksam und in Kreisen, passierte wieder und wieder die gleichen Straßen und Plätze, fand sich nur manchmal weit draußen, in Weißensee, in Marzahn, da, wo Richtung Nordosten die Plattenbauten ausfransten, in Felder übergingen. Zum Unglücklichsein kam es nicht wirklich, er lief nur, ohne sich für das Wohin sonderlich zu interessieren, geradeaus eben, und ihm war dabei friedlich zumute. Es gab in allem eine Pause, sogar in seiner Sehnsucht nach Isabelle, und sein Ärger über ihre letzte ausführliche Mail vor zwei Monaten, aufgeregt wegen des Kriegs und bemüht witzig, in der sie davon schrieb, sie wären aufgefordert, sich mit Kerzen und Batterien einzudecken, verklang, obwohl er ihre Reaktion idiotisch und peinlich fand, die Mischung aus Naivität und unglaubwürdiger Ironie, mit der sie ein Vorratslager unterm Bett schilderte. Denn letztlich, dachte Andras, blieb sie unbehelligt, sie hatte ein bemerkenswertes Talent selbst da unbehelligt zu bleiben, wo etwas sie tatsächlich traf, wie bei Alexas Auszug, bei Hannas Tod, bei ihrer Hochzeit, nicht eine Katze mit sieben Leben, sondern eher wie ein Welpe, dem nie etwas zustößt, weil er so niedlich ist und folglich unverletzlich. Nach Isabelle sehnte er sich nicht, nach Magda nicht, und doch füllten sie den Raum, in dem er lebte, die Spaziergänge und Nachtstunden, wenn er am offenen Fenster stand, in der Zone städtischer Dunkelheit, die das untere Ende der Choriner Straße von den Lichtern des Alexanderplatzes abtrennte. Er hatte wieder angefangen zu rauchen, mühsam zuerst, hustend, es schmeckte nicht, aber Herr Schmidt hatte ihm eines Abends, als sie sich im Treppenhaus begegneten, eine Zigarette angeboten, und Andras verliebte sich in den roten Lichtpunkt, in die glimmend vergehende Zeit. Am Fenster stehend, hinter sich den Geruch von Staub, die Wohnung verkam ein bißchen, da ihn niemand besuchte. Das rote Sofa, auf dem er mit Isabelle gesessen, das Bett, in dem er mit Magda geschlafen hatte. Ihre Körper, so unterschiedlich sie waren, verschwammen ineinander, Magdas trokkene Magerkeit, der weiche Körper Isabelles, das Erfüllte, das Unerfüllte. Er war nicht sicher, ob der Unterschied allzu groß war. Oft wachte er zu spät auf, um rechtzeitig in der Agentur zu erscheinen, dann rief Peter ihn an, wütend, fordernd. Andras beeilte sich pflichtschuldigst, erschien mit zerknirschtem Gesicht in der Dircksenstraße, begann gleich zu arbeiten, und während sich alles doch noch rechtzeitig bewerkstelligen ließ, lauschte er auf die Geräusche von der Straße, die Schritte, Frauenstimmen, die heraufklangen, ging wohl auch ans Fenster, sah Mädchen vorbeischlendern und überlegte, was ihn noch anging, ob er noch teilnahm, wenn er ein Kleid, eine Bewegung der Hüften, schlanke Arme oder Knöchel bewunderte, all das, was ihn lockte und was sich doch entfernt hatte. Verzicht war es allerdings nicht. Es kam vor, daß er sich gekränkt fühlte, prüfte, ob ein Frauenblick ihn streifte, ob eine Frau, die ihm gefiel, seinen Blick erwiderte, ob er sie, die mit einem anderen Mann am Tisch saß, ablenken konnte, ob zufällige Berührungen, flüchtige, an der Kinokasse oder in einem anderen Gedränge, willkommen waren. Als er die dreißigjährige Claire kennenlernte, war er beglückt von ihrer Hoffnung, ihren begeisterten, schüchternen Berührungen, doch dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Nicht ohne Mißtrauen prüfte er, ob die Entscheidung notwendig gewesen war. Von Claire blieben ihm die sanften, ganz und gar rehbraunen Augen im Gedächtnis, etwas darin, das gewichtlos schien, leicht bis zur Selbstaufgabe, kaum faßbar. Es gefiel ihm, denn alles, was er war, was für ihn Bedeutung hatte, wanderte mit leichten Bewegungen an die Oberfläche, glitt die Luftfläche entlang wie Blätter, wie die wattigen Pappelsamen, die so leichthin davonwehten. Einer der Spaziergänge führte ihn in den Westen, zum Waldfriedhof, es war ein strahlender Tag Ende Mai, eine Trauergemeinde in schwarzen Kleidern strömte voller Fusseln vom Grab zurück Richtung Ausgang. Hannas Grab hatte er seit der Beerdigung nicht mehr besucht, jetzt wußte er, wie gepflegt es war, daß Peter wohl keine Woche ausließ, zu jäten oder pflanzen und die Erde zu glätten. Der Sandstein mit Hannas Namen verwischte schon, hellgrünes Moos bedeckte die Regenseite des Steins, es war etwas Tröstliches daran. Bei einem zweiten Besuch, gegen Abend, sah Andras unter einer Hecke Wildschweine davonrennen, es sollte auch Füchse und andere Tiere geben, in den Gärten der Heerstraße und bis hinein nach Charlottenburg. Er beschrieb es in einer Mail Isabelle, den Duft der Akazien und Linden, das Schattenspiel der Blätter im Straßenlicht, die teils pompösen, teils lächerlich schiefen Zäune, die von der Straße Grundstücke und Häuser abtrennten, die gespenstisch breite Straße Richtung Spandau, schließlich die Zufahrt zum Olympiastadion . Erinnerst Du Dich , schrieb er, an diesen Spruch von Bush, nichts ist, wie es war? Die Heerstraße scheint sich seit den dreißiger Jahren nicht verändert zu haben, der Waldfriedhof auch nicht. Alles unverändert. Und wie sehr sich alles doch verändert haben muß, Hanna ist tot, Du bist verheiratet und lebst in London, ich werde womöglich doch nach Budapest aufbrechen. Vielleicht verbringe ich auch nur ein paar Monate dort, meine Wohnung behalte ich auf jeden Fall, Herr Schmidt ist ja auch noch da, er hat sich auf dem Dachboden häuslich eingerichtet, und die Hausverwaltung sucht zwar einen Käufer, hat aber noch immer keinen gefunden, so bleiben wir beide, ganz zufrieden mit dem provisorischen Zustand.
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