Er nahm an, daß Peter ihr von dem bevorstehenden Umzug der Agentur erzählt hatte. In der Dircksenstraße sollte die Miete erhöht werden mit dem fälligen, neuen Vertrag, Peter hatte vorgeschlagen, aus Mitte wegzuziehen, statt über die Miete zu verhandeln, — umziehen, sagte er so heftig, daß Andras erschrak, und dann schwiegen sie, weil sie beide an Hanna dachten. Andras hatte es übernommen zu prüfen, ob sie nicht in die Potsdamer Straße ziehen könnten, und in einem Hinterhaus zwei Drucker gefunden, die an einer Kooperation interessiert waren. Nichts hat sich verändert, dachte er, als er nach dem Treffen die Potsdamer Straße hinunterging, als wäre er, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre zurück, auf dem Nachhauseweg, während Tante Sofi am Klavier saß, spielte, so leicht und fehlerlos spielte, daß Onkel Janos und Andras still auf dem Sofa saßen, und Onkel Janos weinte. Es gibt nicht mehr als das hier, sagte Onkel Janos zu Andras, du verstehst das nicht, du wartest, so wie ich gewartet habe. Er lachte, hoffentlich begreifst du es wenigstens rechtzeitig. Andras schüttelte den Kopf, um die Traumbilder zu verscheuchen. Händler packten das Obst, die ersten Wassermelonen, wieder in ihre Kisten, rollten sie davon in hohen Eisengestellen, klapperten und hörten nicht auf zu rufen, riefen weiter aus, was sie den ganzen Tag lang gerufen hatten, Tomaten, Melonen, billige Auberginen! Ein Kilo Äpfel 39 Cent! Bückten sich nicht nach dem, was auf dem Boden lag, eine alte Frau wartete geduldig in einiger Entfernung darauf, es aufsammeln zu können; Andras wollte ihr fünf Euro geben, sie schüttelte aber den Kopf, sah ihn nicht dabei an. Zwei Jungen rannten aus dem Eiscafe´ gegenüber, der Besitzer hinter ihnen her, schrie aufgebracht, mußte sich nachäffen lassen von den jungen Männern, die vor seinem Cafe´ saßen. Ein Streifenwagen näherte sich, hupte, fuhr weiter. Die Passanten bewegten sich jetzt langsamer, gleichmäßig, verschwammen im allmählich dämmrig werdenden Licht. Vor einer Teestube saßen schweigend ein paar Männer, musterten Andras, und er ging weiter, am Haus vorbei, in dem er mit Tante Sofi und Onkel Janos gewohnt hatte, drehte sich zu spät erst um und blieb nicht stehen. Auf irgendeine Nachricht von Isabelle hatte er doch gewartet, eine Antwort auf seine Mail, einen Gruß wenigstens, ein Zeichen des Fernbleibens, eingeritzt in die so leichte Oberfläche der Zeit. Er lachte auf, über sich selbst und seine Sentimente. Hanna fehlte ihm, sie fehlte ihm wirklich, sie hätte ihm wegen Isabelle den Kopf zurechtgesetzt, Isabelle, die er nicht mehr vermißte, an der er trotzdem hing, auf eine Art, die er nicht recht begriff, und so hatte er Magda verloren. Noch immer hing er an dem unschlüssigen, verwirrten Mädchen, das Isabelle gewesen war, als er sie kennenlernte. Unschlüssig, dachte er, ist mein Leben und ihres auch. Wir wissen, daß es Ursache und Wirkung gibt, aber trotzdem scheint das für uns nicht zu gelten, nicht wirklich. Wie sollen wir dann sagen, ob sich etwas verändert hat oder nicht?
Und die Zukunft mischte sich nicht ins Spiel, sie verwandelte sich in Gegenwart, das war alles. Der Plan, in die Potsdamer Straße umzuziehen, das alte Büro aufzugeben, ließ sich ebenso leicht umsetzen wie die Entscheidung, nicht länger zu malen. Isabelle würde wieder dazukommen oder nicht. Er hatte sich über die Lüge seines Onkels (daß er als Arzt arbeite, aber eigentlich nur Krankenpfleger war) nicht gewundert und nicht über das hingebungsvolle Scheitern seiner Tante. Budapest war, wie er es auch drehte und wendete, verblaßt, ein Schemen, wenn auch auf eigene Weise lebendig, und seine Eltern hatten getan, was sie tun mußten, denn sie glaubten, wenigstens ein Kind zu retten, als sie es dahin schickten, wo sie selbst ermordet worden wären. Alles dumm und ernst. Es war genug entschieden in seinem Leben, und wie ein irrsinnig gewachsener, unliebsamer Gast dehnte sich die Vergangenheit, rekelte sich wie eine alte Katze, lag riesengroß auf Tisch und Bett, die Krallen abgebrochen, doch immer noch eine Masse Fell und Fleisch, die einen fortgetrieben hätten, wenn man gewußt hätte, wohin. — Mein Lieber, zieh hier endlich aus, hatte Magda ihm gesagt, ob nach Budapest oder innerhalb Berlins ist ganz gleichgültig, in diesem Loch verkommst du ja. Es wäre leicht gewesen, zu ihr zu ziehen, er war sicher, daß sie auf seine Frage gewartet hatte, zwei Zimmer und ein Bad für ihn, und abgetrennt, sie würde sich nicht einmischen, wußte er, ihm einen Schlüssel aushändigen zur hinteren Wohnungstür. — Noch eine Möglichkeit, die du ausschlagen kannst? hatte La´szlo´ kommentiert. Und dann war Magda gegangen. La´szlo´ versuchte noch einmal, ihn nach Budapest zu holen, er kam nach Berlin, fünf Kilo schlanker, seit er ins Sportstudio ging: —Direkt über dem Fluß, ein herrlicher Ausblick, Power Walking auf der Stelle, erklärte er grinsend, und daß Andras neue Hemden kaufen müsse. — Schenk die Lederjacke deinem Penner, du siehst fürchterlich aus. Aber es war unmöglich, mit Andras Pläne zu machen. — Worauf wartest du denn noch, was interessiert dich denn? fragte La´szlo´ schließlich verzweifelt. Nichts weiter, nur die ersten warmen Abende, dachte Andras, die Akazien, und daß Isabelle nicht antwortet. Die Vergangenheit interessierte ihn nicht, sie war die riesige osteuropäische und jüdische Katze, ungebeten wuchs sie, beanspruchte Platz. Er konnte ihr nur ausweichen, indem er unauffällig an ihr vorbeischlich.
Dann fand er eine Nachricht von Isabelle, kurz und leichthin geschrieben, dabei eine Zeichnung, ein Mädchen rannte in einem roten Mantel, rannte hastig, wie in Panik davon, und er las, Das Nachbarskind ist das Vorbild, obwohl ich es auf der Straße noch nie gesehen habe, es darf wahrscheinlich nicht aus dem Haus und ist sehr blaß.
Über das neue Büro schrieb sie nichts, schickte nur eine Vollmacht an Peter, Hans kümmerte sich um den Vertrag, und Andras sagte La´szlo´, daß er für drei Wochen nach Budapest kommen würde. — Fahr nur, sagte Peter verärgert, es reicht ja, wenn einer da ist, der sich um alles kümmern kann. Du könntest allerdings ein paar neue Kunden aus Budapest mitbringen. Wenn hier keiner Akquise macht, muß man sie eben aus Budapest oder London importieren. Wie denkt ihr euch das eigentlich? Wir leben schließlich alle drei von der Agentur!
Sie arbeiteten diese Nacht bis zwei Uhr morgens, und als sie sich am nächsten Tag wiedertrafen, nebeneinander im Fenster lehnten, sagte Peter: —Das war es doch, was wir wollten? Eine Grafik-Agentur? Sonja kam an die Tür, zwei Telefone in der Hand, winkte verzweifelt, da ein drittes klingelte, aber die beiden Männer ignorierten sie, lehnten am Fenster in der Sonne, sie fühlten sich wohl miteinander, — wenn Isabelle käme, wäre es auch nicht leichter, sagte Peter, aber wahrscheinlich vermißt du sie.
— Ich vermisse sie gar nicht, das ist es ja. Weißt du, ich war neulich auf dem Friedhof bei Hanna. Und Magda meldet sich wirklich nicht mehr. Aber ich bin nicht niedergeschlagen. Wir machen weiter, es geht doch eigentlich sehr gut, wir sind bloß älter und vielleicht schneller müde, das ist alles. Ich habe mir vorgestellt, irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man weiß, jetzt gilt es, und dann trifft man eine Entscheidung. Womöglich stimmt das gar nicht. Als ich Jakob getroffen habe, bekam ich es mit der Angst. Als würde er etwas suchen, blindlings, und Isabelle rennt irgendwo hin, wie das Mädchen mit dem roten Mantel.
— Für mich gilt nichts mehr, seit Hanna tot ist, sagte Peter langsam. Ich dachte, es liegt daran, an ihrem Tod. Die Arbeit läuft weiter, die Wohnung hat sich kaum verändert, Sonja zieht zu mir, ich wollte es dir schon länger sagen. Er lachte und fuhr sich mit der Hand durch das kurze, graue Haar. — Am Ende kriegst du noch deine Isabelle, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich dir das wünschen soll. Magda ist ein anderes Kaliber.
Читать дальше