Alistair ließ hin und wieder eine Bemerkung fallen, wenn er zu Jakob in den dritten Stock kam oder wenn sie zusammen essen gingen. Er erkundigte sich zwar nach Miller oder Jakobs Lektüre, aber es war deutlich, daß er kam, etwas zu überprüfen, das ihm durch den Kopf ging, er warf einen Satz wie eine Angel aus, sicher, daß Jakob anbeißen würde. Benthams Anwesenheit im selben Stockwerk störte ihn nicht, unbekümmert, wie er war, gab er sich auch keine Mühe, leise zu sprechen. Er war, empfand Jakob, arglos und dabei auf sanfte Weise boshaft, als wollte er seine eigene Liebe zu Bentham ausschöpfen. Ein Vogel, sagte er über Bentham, dem die Federn ausfielen, die Flügel lahm wurden, trotz unbeirrter Eitelkeit, die ja schwerlich zu übersehen sei, und manchmal gehöre zur Eitelkeit eben die Schärfe des Verstandes, sogar des juristischen Verstandes, merkte Alistair schon im Hinausgehen an. Wie sehr, sagte er, Bentham es genieße zu verwirren, einen jungen Mann zu verwirren, fügte er bei anderer Gelegenheit an. Allerdings halte Bentham Verwirrung für etwas durchaus Wünschenswertes, generell gesprochen, nicht nur bei jungen Männern, denn wie solle man bei allzu großer Gewißheit über das Verhältnis von Juristerei und Historie nachdenken, darüber, wie juristische Entscheidungen Dinge gleichsam umkehren wollten, welch trickreiche Art von Fortsetzung Reparationen etwa bedeuteten. Reparationsforderungen insgesamt, sagte Alistair einmal, seien etwas Merkwürdiges, ob er, Jakob, sich vorstellen könne, wie solch ein Thema vom eigenen Alter beeinflußt werde? Verlustrechnungen und deren Begleichung, so müsse Jakob sich das vorstellen. Die Schönheit eines Geliebten und dessen Tod, und wie man noch einmal dagegen räsoniere, klug genug, nicht kämpfen zu wollen, wo es aussichtslos sei. Worauf sich letzteres bezog, begriff Jakob zunächst nicht, ahnte nur, daß es in Zusammenhang stand mit Maudes Fürsorge Bentham gegenüber, die gleichmäßig und jahrelang eingespielt wirkte.
Den knirschenden, an seinen Seilen ächzenden Aufzug benutzte Jakob nie, er stieg die Treppen hinauf und hinunter, die Hand fest um das dick überstrichene Geländer geschlossen. Im Halblicht, das durch die Fenster drang oder aus den Lampen sickerte, leuchtete der abgetretene Teppich, man spürte aber, wie fadenscheinig er war. Es waren Benthams Kanzleiräume seit bald vierzig Jahren, erfuhr Jakob durch seinen hintersinnigen Informanten Alistair, und natürlich sei die Adresse für einen damals noch jungen Anwalt alles andere als selbstverständlich gewesen, zumal für einen Immigranten. Es habe sich um ein Geschenk gehandelt. Hier war Maude, die dazukam, eine sehr viel unbefangenere Erzählerin, 1967, korrigierte sie, hätte Mister Bentham, damals zweiunddreißig Jahre alt und ein junger, schöner Mann, die Räume von einem Gönner — Alistair kicherte — zur Verfügung gestellt bekommen, bald allerdings selber erwerben können, da die Kanzlei nach kurzer Zeit zu den feinsten der Stadt gezählt habe, mehr als ungewöhnlich, denn Bentham sei alleine in London angekommen, mit einem Pappschild um den Hals, mit nichts, zur Adoption freigegeben; schließlich seien seine Eltern nachgefolgt und so der Ermordung entgangen, ohne aber je Fuß zu fassen, zumal ihr zweiter Sohn bald nach ihrer Ankunft starb. — Was für ein Schicksal! fügte sie, noch im nachhinein ängstlich um das Kind besorgt, hinzu. Aber Schicksal, dachte Jakob, war eben das falsche Wort. Auch er hatte, wenn er von diesen Geschichten hörte, an Schicksal gedacht, an verhängte Grausamkeit, an Unausweichliches. Die Wiedervereinigung war ihm als Chance erschienen, einen winzigen Teil des Unrechts dem Gesetz doch noch zu unterwerfen. Aber erst jetzt begann er, die Nazizeit als menschengemacht zu begreifen, als Politik, Handlung, Willen.
Daß Benthams Kindheit nicht der Grund für Maudes umständliche Fürsorge war, mit der sie ihn verabschiedete, wenn er abends aufbrach, nicht immer ganz sicher auf den Beinen, mit einer Geste, als wollte sie alle guten, liebenswürdigen Geister zu seinem Schutz anrufen, begriff Jakob, als er Bentham eines Abends unweit des Coliseums erspähte. Sein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus, im nächsten Augenblick krampfte es sich aber zusammen, denn Bentham wartete, offenkundig vergeblich, auf jemandes Ankunft, einsam in seiner Eleganz und vollkommenen Haltung. Die Passanten betrachteten ihn verwundert, drängten sich an ihm vorbei, und Jakob war froh, außer Hörweite keine despektierlichen Bemerkungen aufschnappen zu können, denen der Mann in seinem weißen Anzug, mit einer schwarzen Fliege und hellen, makellosen Schuhen ausgesetzt schien. Er war sicher, nicht von ihm entdeckt zu werden, denn es war augenfällig, daß Bentham nur sehen würde, auf wen er wartete, und Jakob ging weiter, einer Verabredung mit Isabelle entgegen, flüchtete sich zu ihr und merkte, daß er gekränkt war. Es gab jemanden, der in Benthams Leben die entscheidende Rolle spielte.
Als Alistair tags darauf in seiner Zimmertür auftauchte, fühlte Jakob sich wie ein Mäuschen, herausgelockt von dem katzenverspielten Hintersinn der Einfälle Alistairs, von seinem geschmeidigen Körper, den niemals leeren Händen, die ihn in ihrer unbekümmerten Beweglichkeit zu verspotten schienen. — Bentham geht heute sicherlich früh, und ich habe mit Isabelle ausgemacht, daß wir uns Sunset Boulevard anschauen, im National Film Theatre. — Aber warum soll Bentham heute früh nach Hause gehen? fragte Jakob, ärgerlich, sich diese Blöße zu geben. — Heute wäre der Geburtstag seines Lebensgefährten, antwortete Alistair, nun komm schon, ich hole dich in einer Stunde hier ab, Isabelle erwartet uns am NFT, wir fahren mit meiner Vespa, oder willst du lieber laufen? Jakob willigte in den Plan ein, bestand aber darauf zu laufen, und Alistair winkte ihm zu, verschwand. Auf der Dachrinne hockten nebeneinander geplustert Tauben, Jakob hörte sie gurren, trat ans Fenster. Ein Vorgänger oder Besucher hatte Zigarettenstummel in die kupferne Dachrinne geschnippt. — Rauchen Sie nur weit aus dem Fenster gelehnt, hatte ihm Maude gleich zu Anfang gesagt, und hier rauchte er, was er lange nicht mehr getan hatte, spähte hinunter auf die Straße, lauschte den Stimmen, den Autos, den Sirenen. Im Haus war es schon still, anscheinend war Bentham wirklich aufgebrochen, weder sein leises Husten noch das Telefon ließen sich hören. Als Jakob später den Fußgängersteg von Waterloo Bridge überquerte, neben den rhythmisch stampfenden Zügen, die nach ihrer Reise vom Kontinent an Geschwindigkeit und Kraft zu verlieren schienen, kam zielstrebig ein jüngerer Mann auf ihn zu, durchschnitt das Gedränge in seiner Aufmachung, ein glitzerndes, enges Jäckchen, darüber ein dicht gelockter, schöner Kopf, blieb vor Jakob stehen und lächelte ihn an, streckte sogar die Hand aus, berührte, als Jakob stumm verneinte, seine Schulter für einen winzigen Moment und ging weiter. Ein verwirrendes, hartnäckiges Bedauern blieb zurück, so daß Jakob die Szene Isabelle und Alistair schilderte, den hübschen, jungen Mann, der ihm anscheinend ein Angebot gemacht habe, oder wie solle er das verstehen? fragte Jakob, als Isabelle zum Tresen gegangen war, den lachenden Alistair, der tat, als hätte er derlei von vornherein gewußt. — Aber warum solltest du einem anderen Mann nicht gefallen? Jakob betrachtete Isabelle, die sich mit drei Gläsern und einer Flasche Wein näherte, sie lächelte Alistair an. Er hätte, dachte Jakob, eifersüchtig werden können und war es nicht. Als er fragte, ob sie ihn nach Berlin begleiten wollte, verneinte sie.
Nachdem sie Jakobs Vorgehen in Berlin besprochen hatten, erhob sich Bentham und bedeutete Jakob sitzen zu bleiben. — Lassen Sie sich jedenfalls Zeit. Übrigens bin ich nächste Woche für ein paar Tage ebenfalls nicht hier.
Er trug zu dem hellen Anzug diesmal eine weiße Fliege mit schwarzen Punkten.
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