cherlich.
Er konzentrierte sich und rief sich in allen Einzelheiten den Weg zurück, den Humboldts Kutsche vorhin vom Packhof Nummer vier zum Singverein genommen hatte.
Er bekam nicht mehr alle Kurven richtig zusammen, aber die Richtung schien eindeutig: schräg nach links, nordöstlich wohl. Daheim hätte er es durch einen Blick nach oben geklärt, aber in dieser Kloake konnte man keine Sterne sehen. Der lichtauslöschende Äther. Wenn man hier lebte, konnte einem solcher Blödsinn wohl einfallen!
Nach jedem Schritt sah er sich um. Er hatte Angst vor Räubern, vor Hunden und vor Dreckpfützen. Er hatte Angst, daß die Stadt so groß war, daß er nie mehr herausfinden, daß ihr Labyrinth ihn festhalten und nicht zurück nach Hause lassen würde. Aber nein, man durfte sich in nichts hineinsteigern! Eine Stadt, das waren auch nur Häuser, und in hundert Jahren würden die kleinsten größer sein als diese, und in dreihundert – er runzelte die Stirn, es war nicht leicht, eine exponentielle Wachstums-kurve zu überschlagen, wenn man nervös und traurig war und einen der Bauch schmerzte –, in dreihundert Jahren also würden in den meisten Städten mehr Menschen leben als heute in allen deutschen Staaten zusammen. Menschen wie Insekten, in Waben hausend, niederen Arbeiten nachgehend, Kinder zeugend und sterbend. Natürlich würde man die Leichen verbrennen müssen, kein Fried-hof könnte das fassen. Und all die Exkremente? Er nieste und fragte sich, ob er nun auch noch krank wurde.
Als sein Gastgebet zwei Stunden später heimkam, fand er Gauß im großen Lehnsessel, pfeiferauchend, die Füße auf einem mexikanischen Steintischchen.
Wohin er so plötzlich verschwunden sei, rief Humboldt, man habe ihn gesucht, habe das Schlimmste vermutet, ein vorzügliches Buffet habe es auch gegeben! Der König sei enttäuscht gewesen.
Ums Buffet tue es ihm leid, sagte Gauß.
Das sei doch keine Art. Viele Leute seien eigens angereist. Das könne man nicht tun!
Dieser Weber gefalle ihm, sagte Gauß. Aber licht-schluckender Äther. So ein Unsinn.
Humboldt verschränkte die Arme.
Occam’s razor, sagte Gauß. Die Anzahl der zu einer Erklärung nötigen Annahmen sei so klein wie möglich zu halten. Im übrigen sei der Raum zwar leer, aber ge-krümmt. Die Sterne wanderten durch ein sehr unheimliches Gewölbe.
Schon wieder, sagte Humboldt. Astrale Geometrie. Er wundere sich, daß ein Mann wie Gauß diese seltsame Richtung vertrete.
Tue er nicht, sagte Gauß. Er habe früh beschlossen, nie darüber zu publizieren. Er habe keine Lust gehabt, sich dem Gespött auszusetzen. Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt. Er ließ zwei Rauchwölkchen an die Decke steigen. Was für ein Abend!
Fast hätte er nicht heimgefunden, und um von dem faulen Personal hereingelassen zu werden, habe er das ganze Haus wachläuten müssen. So dreckige Straßen gebe es kein zweites Mal.
Er sei vermutlich etwas weiter herumgekommen, sagte Humboldt scharf. Und er versichere ihm, es gebe drek-kigere. Und es sei ein großer Fehler, sich einfach zu ent-fernen, wenn so viele Leute zusammenkämen, mit denen man Projekte in die Welt setzen könne.
Projekte, schnaubte Gauß. Gerede, Pläne, Intrigen.
Palaver mit zehn Fürsten und hundert Akademien, bis man irgendwo ein Barometer aufstellen dürfe. Das sei nicht Wissenschaft.
Ach, rief Humboldt, was sei Wissenschaft denn dann?
Gauß sog an der Pfeife. Ein Mann allein am Schreibtisch. Ein Blatt Papier vor sich, allenfalls noch ein Fernrohr, vor dem Fenster der klare Himmel. Wenn dieser Mann nicht aufgebe, bevor er verstehe. Das sei vielleicht Wissenschaft.
Und wenn dieser Mann sich auf Reisen mache?
Gauß zuckte die Schultern. Was sich in der Ferne verstecke, in Löchern, Vulkanen oder Bergwerken, sei Zufall und unwichtig. Die Welt werde so nicht klarer.
Dieser Mann am Schreibtisch, sagte Humboldt, brauche natürlich eine fürsorgliche Frau, die ihm die Füße wärme und Essen koche, sowie folgsame Kinder, die seine Instrumente putzten, und Eltern, die ihn wie ein Kind versorgten. Und ein sicheres Haus mit gutem Dach gegen den Regen. Und eine Mütze, damit ihm nie die Ohren schmerzten.
Gauß fragte, wen er damit meine.
Er meine das ganz allgemein.
In diesem Fall: Ja, all das brauche er und mehr. Wie solle es ein Mann sonst aushalten?
Der Diener, bereits im Schlafrock, trat herein.
Humboldt fragte, was das für Sitten seien, ob er nicht klopfen könne?
Der Diener reichte ihm ein Blatt Papier. Das sei eben abgegeben worden, von einem Straßenjungen. Es scheine wichtig.
Uninteressant, sagte Humboldt. Er nehme nicht von irgend jemandem nächtliche Briefe entgegen. Das sei ja wie in einem Stück von Kotzebue! Widerwillig entfaltete er das Papier und las. Merkwürdig, sagte er. Ein Gedicht.
Unbeholfen gereimt. Etwas über die Bäume, den Wind und das Meer. Ein Raubvogel komme auch vor und ein König aus dem Mittelalter. Dann breche es ab. Offenbar mangels eines Reimworts auf Silber.
Der Diener bat ihn, das Blatt umzudrehen.
Humboldt tat es und las. Großer Gott, sagte er leise.
Gauß setzte sich auf.
Offenbar sei der junge Herr Eugen in Schwierigkeiten geraten. Diesen Zettel habe er aus dem Polizeigefängnis geschmuggelt.
Gauß blickte reglos an die Decke.
Das sei wirklich nicht angenehm, sagte Humboldt. Er sei immerhin Staatsbeamter.
Gauß nickte.
Und helfen könne er auch nicht. Die Dinge würden ihren Gang nehmen. Übrigens könne man sich auf die preußische Justiz verlassen, da geschehe kein Unrecht.
Wer nichts begangen habe, könne vertrauen.
Gauß betrachtete seine Pfeife.
Beschämend sei das, sagte Humboldt, sehr unerfreulich.
Immerhin handle es sich um seinen Gast.
Mit dem Jungen sei nie etwas anzufangen gewesen, sagte Gauß. Er schob sich den Pfeifenstiel zwischen die Lippen.
Eine Weile schwiegen sie. Humboldt trat ans Fenster und sah in den dunklen Hof hinunter.
Was könne man schon tun?
Ja, sagte Gauß.
Es sei ein langer Tag gewesen, sagte Humboldt. Sie seien beide müde.
Und nicht mehr die Jüngsten, sagte Gauß.
Humboldt ging zur Tür und wünschte eine gute Nacht.
Er rauche noch die Pfeife fertig, sagte Gauß.
Humboldt nahm den Kerzenleuchter mit und schloß die Tür hinter sich.
Gauß verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das einzige Licht kam vom Glimmen seiner Pfeife. Auf der Straße rollte mit blechernem Lärm ein Fuhrwerk vorbei.
Gauß nahm die Pfeife aus dem Mund und drehte sie zwischen den Fingern. Er spitzte die Lippen und horchte in die Luft. Schritte näherten sich, die Tür flog auf.
So gehe das nicht, rief Humboldt. Er könne das nicht hinnehmen!
So, sagte Gauß.
Aber man habe wenig Zeit. Heute nacht sei Eugen noch in der Obhut det Gendarmen. Morgen früh werde ihn die Geheimpolizei vernehmen, dann sei nichts mehr aufzuhalten. Wenn sie ihn herausholen wollten, müsse es jetzt sein.
Gauß fragte, ob er wisse, wie spät es sei.
Humboldt starrte ihn an.
Er sei seit Jahren nicht um diese Zeit unterwegs gewesen! Wenn er es recht bedenke, überhaupt noch nie.
Humboldt stellte ungläubig den Kerzenhalter ab.
Na gut. Gauß legte schnaufend die Pfeife weg und stand auf. Das werde ihn unfehlbar noch kränker machen.
Auf ihn wirke er recht gesund, sagte Humboldt.
Das reiche jetzt, rief Gauß. Es sei alles schon schlimm genug. Er müsse sich nicht auch noch beleidigen lassen!
Die
Geister
Gendarmeriekommandant Vogt war ausgegangen. Seine Frau, gewickelt in einen wollenen Hausrock, Gesicht und Haare noch wirr vom Schlaf, sagte ihnen, er sei nach dem Empfang in der Singakademie kurz heimgekommen und dann weggerufen worden, offenbar habe es Verhaftungen gegeben. Kurz vor Mitternacht sei er noch einmal zurückgekehrt, habe sich zivil gekleidet und sei wieder losgefahren. Er halte das einmal die Woche so. Nein, wohin wisse sie nicht.
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