Bonplands Kopf tat weh, auch fühlte er wieder sein Fieber. Er war todmüde. Es würde lange dauern, bis er sich von diesem Tag erholt hätte. Wer weit reise, sagte er, erfahre viele Dinge. Ein paar davon über sich selbst.
Humboldt bat um Entschuldigung. Er habe leider nichts verstanden. Der Wind!
Bonpland schwieg ein paar Sekunden. Nichts Wichtiges, sagte er dankbar. Geschwätz, Gerede.
Na dann, sagte Humboldt mit unbewegtem Gesicht.
Kein Grund zum Trödeln!
Zwei Stunden später stießen sie auf ihre wartenden Führer. Humboldt verlangte seinen Brief zurück und zerriß ihn sofort. In diesen Dingen dürfe man nicht nachlässig sein. Nichts sei peinlicher als ein Abschiedsschrei-ben, dessen Verfasser noch lebe.
Ihm sei es egal, sagte Bonpland und hielt sich den schmerzenden Kopf. Sie sollten den seinen behalten oder wegwerfen, sie könnten ihn auch abschicken.
In der Nacht schrieb Humboldt, zum Schutz gegen das Schneetreiben zusammengekauert unter einer Decke, zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei. Sorgfältig versiegelte er jeden einzelnen. Dann" erst schwanden ihm die Sinne.
Der
Garten
Am späten Abend klopfte der Professor an die Tür des Herrenhauses. Ein junger, hagerer Diener öffnete und sagte, Graf von der Ohe zur Ohe empfange nicht.
Gauß bat ihn, den Namen zu wiederholen.
Der Diener tat es: Graf Hinrich von der Ohe zur Ohe.
Gauß mußte lachen.
Der Diener betrachtete ihn mit einem Ausdruck, als wäre er in einen Kuhfladen getreten. Die Familie des gnä-
digen Herrn heiße seit tausend Jahren so.
Deutschland sei schon ein spaßiger Fleck, sagte Gauß.
Wie auch immer, er komme wegen der Landvermessung. Hindernisse seien wegzuräumen, der Staat müsse Herrn ... Er lächelte. Der Staat müsse dem Herrn Grafen einige Bäume und einen wertlosen Schuppen abkaufen.
Eine reine Formsache, die man schnell hinter sich bringen könne.
Vielleicht könne man, sagte der Diener. Aber gewiß nicht mehr heute abend.
Gauß blickte auf seine schmutzigen Schuhe. Er hatte es befürchtet. Gut, dann übernachte er hier, man solle ihm ein Zimmer richten!
Er glaube nicht, daß Platz sei, sagte der Diener.
Gauß nahm seine Samtkappe ab, wischte sich über die Stirn und fingerte an seinem Kragen. Er fühlte sich un-wohl und verschwitzt. Sein Magen schmerzte. Dies sei ein Mißvetständnis. Er komme nicht als Bittsteller. Er sei Leiter der staatlichen Meßkommission, und wenn man ihn von der Schwelle weise, kehre er in Begleitung wieder. Ob man ihn verstehe?
Der Diener trat einen Schritt zurück.
Ob man ihn verstehe?
Jawohl, sagte der Diener.
Jawohl, Herr Professor!
Herr Professor, wiederholte der Diener.
Und jetzt wünsche er den Grafen zu sehen.
Der Diener runzelte die Brauen so stark, daß seine ganze Stirn zerknitterte. Er habe sich offenbar nicht klar ausgedrückt. Der gnädige Herr habe sich schon zurück-gezogen. Er schlafe!
Nur einen Moment, sagte Gauß.
Der Diener schüttelte den Kopf.
Schlaf sei kein Schicksal. Wer schlafe, den könne man wecken. Je länger er hier stehen müsse, desto später komme der Graf wieder in die Federn, und seine eigene Laune bessere es auch nicht gerade. Er sei hundemüde.
Mit heiserer Stimme bat der Diener, ihm zu folgen.
Er trug den Kerzenhalter so schnell voran, als hoffte er, Gauß davonlaufen zu können. Schwer wäre es nicht gewesen: Gauß’ Füße schmerzten, das Leder seiner Schuhe war zu hart, unter seinem Wollhemd juckte es, und ein Brennen im Nacken zeigte ihm, daß er sich einen neuen Sonnenbrand geholt hatte. Sie gingen durch einen niedrigen Gang mit bläßlichen Tapeten. Eine Magd mit hübscher Figur trug einen Nachttopf vorbei, Gauß sah ihr wehmütig nach. Sie kamen eine Treppe hinunter, dann wieder hinauf, dann wieder hinunter. Die Anlage sollte wohl Besucher verwirren, und vermutlich funktionierte das bei Leuten ohne geometrische Vorstellungskraft ganz gut. Gauß überschlug, daß sie jetzt etwa zwölf Fuß über und vierzig Fuß westlich vom Haupttor waren und sich in südwestlicher Pachtung bewegten. Der Diener klopfte an eine Tür, öffnete, sagte ein paar Worte ins Innere und ließ Gauß eintreten. In einem Schaukelstuhl saß ein alter Mann im Schlafrock mit Holzpantoffeln. Er war groß, hatte hohle Wangen und stechende Augen.
Von der Ohe zur Ohe, angenehm. Worüber lachen Sie?
Er lache nicht, sagte Gauß. Er sei der staatliche Landvermesser. Er lache nie und habe sich bloß vorstellen wollen und für die Gastfreundschaft bedanken.
Der Graf fragte, ob er deshalb geweckt worden sei.
Genau deshalb, sagte Gauß. Jetzt wünsche er eine gute Nacht! Zufrieden folgte er dem Diener eine weitere Treppe hinunter und einen besonders stickigen Gang entlang.
Diese Leute würden ihn nie wieder wie einen Domestiken behandeln!
Sein Triumph hielt nicht lange an. Der Diener brachte ihn in ein fürchterliches Loch. Es stank, auf dem Boden lagen Reste von fauligem Heu, ein Holzbrett diente als Bett, zum Waschen war ein rostiger Eimer mit nicht ganz sauberem Wasser gefüllt, ein Abort nicht zu sehen.
Er habe ja schon einiges erlebt, sagte Gauß. Vor zwei Wochen habe ein Bauer ihm seine Hundehütte angebo-ten. Aber die sei schöner gewesen als das hier.
Das möge sein, sagte der Diener, bereits im Gehen.
Aber etwas anderes gebe es nicht.
Stöhnend zwängte sich Gauß auf die Holzpritsche.
Das Kissen war hart und roch nicht gut. Er legte seine Mütze darauf, aber das half nicht. Lange konnte er nicht einschlafen. Sein Rücken tat weh, die Luft war schlecht, er fürchtete sich vor Geistern, und wie jeden Abend fehlte ihm Johanna. Da war man einen Moment nicht aufmerksam gewesen, und schon hatte man ein Amt, zog durch die Wälder und verhandelte mit Bauern um ihre schiefen Bäume. Heute nachmittag erst hatte er für eine alte Birke das Fünffache ihres Wertes bezahlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis seine Helfer endlich den störrischen Stamm durchgesägt hatten und er Eugens Leuchtsignal mit dem Theodoliten anpeilen konnte. Natürlich hatte der Esel zunächst in die falsche Richtung geblinkt! Morgen würden sie sich treffen, und er mußte sich darum kümmern, wie man von dort in höchstens zwei Geraden zum nächsten Knotenpunkt kam. Das war jetzt sein Beruf. Das astronomische Buch war längst erschienen, von der Universität war er beurlaubt. Immerhin war die Arbeit gut bezahlt, und wenn man nicht dumm war, konnte man auf verschiedene Arten noch ein wenig nebenbei verdienen. Über diesen Gedanken schlief er ein.
Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum.
Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen. Beklommen setz-
’te er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor ihm lag. Dann wechselte er in wenigen Sekunden von einer Wirklichkeit in die nächste und wieder nächste, und keine hatte etwas Besseres zu bieten als dasselbe verdreckte Zimmer mit Heu auf dem Boden und einem Wassereimer in der Ecke. Einmal stand eine hohe, ver-schattete Gestalt in der Tür, ein andermal lag ein toter Hund in der Ecke, dann hatte sich ein Kind mit einer hölzernen Maske hereinverirrt, aber bevor er es deutlich sehen konnte, war es schon wieder weg. Als er schließlich erschöpft auf dem Bettrand saß und in den sonnigen Morgenhimmel sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und dachte an Eugen, den er am Nachmittag treffen würde. Üblicherweise besserte es seine Laune, wenn er ihn anschreien konnte. Er kleidete sich an und ging gähnend hinaus.
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