»Was?«, formten ihre Lippen lautlos.
Claas deutete erneut auf das Glas.
»Für mich ist das Wichtigste, dass es dir gutgeht, dass du zufrieden bist«, sagte Theresa, ihre Stimme sanft.
»Und ich?«, Claas brüllte, seine Stimme hallte in dem leeren Raum, »und was ist mit mir?«
»Der Junge kommt.«
»Gewiss, Frau Streml«, sagte die junge Dame.
»Erika hat gesagt, es sei tot gewesen«, sie lächelte und schüttelte den Kopf, »war ganz blau, hat sie gesagt.«
Die junge Dame nickte und hielt ihr ein Glas mit hellrosa Flüssigkeit hin.
»Sie ist bös wegen Gerhard.«
»Rhabarberschorle«, sagte die junge Dame, als sie nicht zugriff.
»Nein danke«, sie war nicht durstig, musste noch einkaufen, der Junge kam, sie musste ihm was anbieten können, alles andere wäre unhöflich. »Ich muss los«, sagte sie und schob ihren Stuhl zurück. Der Stuhl war schwer, sie musste sich an der Tischkante abstützen.
»Aber wohin denn, Frau Streml? Hier im Garten ist es schön, möchten sie ein Eis?«
»Nein danke«, sagte sie, »ich benötige Kekse und die kleinen bunten Bärchen, ich muss leider nach Hause.« Die junge Dame tat ihr leid. Die junge Dame fasste nach ihrem Arm.
***
Claas stand unter der Dusche, Theresa klappte den Geschirrspüler zu, schaltete ihn ein. Ebba kam heute wieder, sie wischte den Tisch ab, fing die Brötchenkrümel mit der Handfläche an der Kante auf. Sie hatte Ebbas Bett frisch bezogen, den Staub von der Kommode gewischt. »Lass sie das machen, gib ihr die Chance, erwachsen zu sein«, hatte Claas gesagt.
Die Brandursache war schnell geklärt gewesen, am Morgen nach dem Feuer hatte die Polizei angerufen, um kurz nach sieben. Theresa hatte sich nicht gerührt, war mit geschlossenen Augen liegen geblieben, vielleicht hört es auf, hatte sie gedacht. Claas war aufgestanden, hatte das Telefon geholt, sich wieder ins Bett gelegt. »Ich verstehe«, hörte sie ihn mehrmals sagen. Er hatte das Licht nicht angeschaltet, die Vorhänge waren zugezogen, aus dem Flur fiel ein heller Streifen durch die offene Schlafzimmertür. »Ein Kurzschluss«, hatte er vor sich hin gesagt, die Worte des Beamten wiederholend, und »ein defektes elektrisches Gerät«.
Das Lüftergehäuse war aus Kunststoff gewesen, Metall wäre schwerer, viel schwerer. Kunststoff schmolz, wurde flüssig, mitsamt Claas’ Fingerabdrücken, hatte Blasen geworfen, war herabgelaufen. Die Dielen hatten gebrannt, schwarze, zerbröckelnde Stümpfe, er musste geschmolzen sein.
Als Claas auflegte, hatte sie die Augen geschlossen, ich schlafe. Er bewegte sich nicht, lag stumm neben ihr. Er sieht dich nicht an, sagte sie sich, die Muskeln in ihrem Rücken waren fest geworden, er sieht nicht dich an. War erleichtert gewesen, als sie die Pieptöne der Telefontastatur hörte, Freizeichen, Tula hatte sich gemeldet. »Ich bleibe heute zu Hause«, hatte Claas gesagt, »es gibt viel zu klären nach dem Unfall.« Unfall, nicht Feuer oder Brand oder ein Toter. Theresa hatte protestieren wollen, du schläfst, hatte sie gedacht, nicht die Lider bewegen, du schläfst. Zu Hause, hatte er gesagt, als habe er nicht vor aufzustehen und in seine Wohnung zu fahren. Das Haus war unbewohnbar, fiel ihr ein, er konnte gar nicht in die Wohnung. Sie hatte sich aufgerichtet, »du musst sofort die Versicherung anrufen«, hatte sie gesagt. Er hatte nicht geantwortet, war in die Küche gegangen, hatte sich eine Tasse Kaffee gemacht, nicht gefragt, ob sie auch eine wollte. War zurück ins Bett gekommen. Du ziehst aus, könnte sie sagen. Nein, das hatte sie schon gesagt, du bist ausgezogen, war richtig, was willst du hier. Und wenn er nicht ging, die Arme vor der Brust verschränkte und einfach liegen blieb. Sie sah sich an ihm zerren, beide Hände um seinen Ellbogen gelegt, hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn, warf sich nach hinten. Allenfalls würde sie seinen Oberkörper wenige Zentimeter über die Matratze ziehen, so dass er schräg läge, sie würde ihn nicht allein aus der Wohnung kriegen, wenn er nicht wollte. Die Polizei könnte sie rufen, Jansen, ja, die mit dem verbrannten Toten und der in Portugal wiedergefundenen Tochter. Mein Mann möchte die Wohnung nicht verlassen. – Ist Ihr Mann gewalttätig geworden? – Ja, er kauft.
Sie schaltete die Nachttischlampe ein. »Ruf die Versicherung an«, hatte sie gesagt, »und die Bauaufsicht wegen der Statikprüfung.« – »Der Ordner mit der Versicherungspolice ist in der Wohnung«, hatte er geantwortet. Sie könnte die Tür abschließen, wenn er ihn holen fuhr. Den Schlüssel von innen stecken lassen, die Schlafzimmertür schließen, den Fernseher laut stellen. Claas würde wahrscheinlich den Schlüsseldienst rufen, plötzlich vor dem Bett stehen, »und ich?« brüllen.
Theresa hatte zu ihm rübergesehen, seine Haare standen vom Kopf ab, viel Haut war zu sehen, sehr hell an der Stirn, über den Ohren, in seinem Nacken. »Ich muss die Nummer raussuchen«, seine Lider waren gerötet, er hatte sie gerade mit den Handflächen gerieben, sah Theresa an, sah ihr ins Gesicht. An die Blechautos musste sie denken. Deng, Deng, Deng. »Ich habe meine Kindheit auf der Fensterbank verbracht«, hatte er vor Jahren mal gesagt, »draußen Nieselregen, gegenüber die rot-weiß gestreifte Markise des Obstladens, Algen sind darauf gewachsen. Ich war sicher, ich würde ewig dort sitzen.«
Theresa hatte die Hand ausgestreckt, unbestimmt in seine Richtung, wünschte, er hätte ewig dort gesessen. Sicher verwahrt, dann müsste sie nun keine Angst um ihn haben. Er hatte ihre Hand nicht einmal angesehen, hatte sich abgewandt.
»Hast du Hunger«, hatte sie irgendwann gefragt, die Vorhänge noch immer zugezogen. Claas hatte genickt. Sein Gesicht verlor den Halt, die Mundwinkel rutschten nach unten, seine Augenlider pressten sich zusammen. Das Weinen war stückweise gekommen, krampfartig, klagend, ließ seinen Kopf, seinen Brustkorb hüpfen, zusammensinken, hüpfen. Sie schlang die Arme um ihn, um seinen Oberkörper, wollte ihn stillhalten, dass er zu hüpfen aufhörte, er hatte seine Stirn an ihr Brustbein gelegt, ihr Nachthemd wurde nass.
»Ich hol uns was zu essen«, hatte sie gesagt, nachdem Claas wieder ruhig geworden war. Theresa war in die Küche gegangen, hatte die Badezimmertür hinter sich gehört, das Schnauben, mit dem er die Nase putzte. Hatte den Kühlschrank geöffnet, lange dort gestanden, die kalte Luft gefühlt. Als der Kühlschrankmotor ansprang, hatte sie die Aufschnittpakete aus den Fächern geholt, Ziegenkäse, Salami. Die Butterdose, hatte alles auf ein Tablett gestapelt. Brot aufgeschnitten, zwei Teller aus dem Schrank genommen, Besteck, in der Kammer fand sie ein Glas mit Kirschkapern, Oliven.
Sie hatte die Vorhänge nicht aufgezogen, der Lichtkegel der Nachttischlampe begrenzte die Welt auf überschaubare Hügel aus weißer Bettwäsche, denen man ansah, dass sie nach dem Waschen gebügelt worden waren. Sie hatte ihm seinen Teller gereicht, den Fernseher angeschaltet.
Am nächsten Morgen, O Gott, es ist Samstag, hatte sie beim Aufwachen gedacht, er muss nicht in die Praxis, saß Claas neben ihr im Bett. »Ich brauche die Ordner«, hatte er gesagt, sobald sie sich bewegte. Seine Stimme fest, klang, als wäre er schon lange wach, »ich fahr sie holen.« Holen, er hatte also vor, wiederzukommen. »Der Schlüssel«, hatte er gefragt. Erst hatte Theresa nicht verstanden, »der Autoschlüssel«, er klang ungeduldig. »In meiner Manteltasche«, hatte sie geantwortet, plötzlich Angst bekommen. »Fass nichts an«, hatte sie gesagt, »geh bloß nicht in die Wohnung im Erdgeschoss.« Genickt hatte er.
Wenige Tage später hatte sein Wecker einfach wieder auf dem Nachtschrank gestanden, morgens lag die Zeitung im Briefkasten. Sie hatte nichts gesagt. Am nächsten Sonntag hatte Claas sie von den Klausuren hochgeschreckt. Theresa hatte auf dem Bett gedöst, ein Stapel Arbeiten neben sich, als irgendwas laut über den Boden schrammte. Es klang, als würden Möbel geschoben, einen Moment war es still, dann schlug irgendetwas dumpf auf den Dielen auf. »Scheiße«, hatte sie Claas rufen hören. Sie war aufgestanden, ins Wohnzimmer gelaufen, er stand vor der Tür des Arbeitszimmers und zerrte am Sofa, die Lehne war irgendwo verkeilt. »Hol eine Decke«, hatte Claas gesagt, als er sie sah. Die Decke hatten sie unter den Rahmen geschoben, gemeinsam das Sofa ins Wohnzimmer gezogen, hatten schweigend das Arbeitszimmer aufgeräumt. Und dann hatte die Polizei angerufen und gesagt, er wäre gar nicht verbrannt. Theresa war ans Telefon gegangen. »Wahrscheinlich eine Auseinandersetzung im Drogenmilieu«, hatte der Kommissar gesagt. Sie hatten ihn identifiziert, den Toten, es war nicht Jürgen Schmidtke, der Tote war vorbestraft, sie hatten seine Fingerabdrücke nehmen können, wie verkohlte Grillwürstchen stellte Theresa sich die Finger vor. Angewidert warf sie die benutzten Kaffeepads in den Müll. Der Verwesungsprozess sei durch die Kälte gehemmt worden, sei aber nachweisbar bereits im Gange gewesen, als der Körper kremiert sei, so hatte der Kommissar sich ausgedrückt. Mehrere nicht verheilte Frakturen des rechten Beins hätten sie festgestellt. Die Brandursache war kniffliger, Kurzschluss in einem defekten Gerät, bei den Fundumständen wahrscheinlich provoziert, Spuren von Brandbeschleuniger hätte es nicht gegeben. Und dass sie keinen Zusammenhang mit dem Einbruch in die Praxis gefunden hätten.
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