Ингер-Мария Мальке - Rechnung offen

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Berlin-Neukölln: Dass der kaufsüchtige Claas Jansen eine leerstehende Wohnung im eigenen Mietshaus beziehen muss, hat weit mehr Gründe als die Bankenkrise. Und nicht nur er sieht sein früheres Leben in einem rasanten Abwärtsstrudel verschwinden. Am Scheidepunkt zwischen Kiezwirklichkeit und hipper Großstadt geht es um nicht minder Existenzielles. Jeder hat hier eine Rechnung offen: die afrikanischen Dealer, die ihre Schlepperkosten abarbeiten, die alzheimerkranke Alte und der Hochstapler, die Kurzzeit-Domina, ihr achtjähriger Sohn und andere Gestalten – eine globalisierte Notgemeinschaft. Sensibel, radikal und mit ganz eigenem Ton entwirft Inger-Maria Mahlke weit mehr als ein diagnostisches Zeitbild – eine große Parabel über die Abgründe des Lebens am Rande unserer gentrifizierten Welt.

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Rechnung offen von Inger-Maria Mahlke

Die Arbeit wurde mit einem Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin gefördert.

Für Benni und Bernd

Freitag, 29. August

Der Radfahrer schlug mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe. Theresa hörte ihren Atem, saß noch immer vorgebeugt, ihr Brustkorb, wenige Zentimeter vom Lenkrad entfernt, hatte sich nicht gerührt, seit sie das Bremspedal durchgetreten hatte. Einen Moment lang sah sie seine Handfläche, weiß gegen das Glas gepresst, die Linien und Falten rötlich. Sie startete den Motor erneut, drehte sich nicht um, wollte nicht wissen, ob Claas noch auf dem Bürgersteig vor der Praxis stand, ob er überhaupt so weit gucken konnte, bis zur Querstraße. Der Radfahrer hatte Vorfahrt gehabt.

Sie war gegangen, wortlos. Hatte den beiden Sideboards, die die lange Seite des Behandlungszimmers einnahmen, hatte Claas und dem Polizeibeamten den Rücken zugedreht. Sich nicht umgewandt, als Claas ihr »du musst mich fahren« hinterherrief. War weitergegangen, die Sohlen ihrer Ballerinas quietschten auf dem Laminat, sie hatte die Füße hörbar aufgesetzt, zufrieden dem dumpfen Stampfen zugehört, das die Korridorwände zurückwarfen. Die Glastür am Eingang war gegen die Wand geschlagen, sie hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, den Autoschlüssel in ihrer Handtasche fest umklammert.

Sie fuhr auf die Kreuzung, bog ab in Richtung Stadtautobahn.

Sie war sicher gewesen, er hatte aufgehört. Hatte nach der Arbeit keine Paketmitteilungen mehr im Briefkasten gefunden. Keine weißen Styroporfasern vom Wohnzimmerteppich gesaugt, wenn Claas vor ihr nach Hause gekommen war. »Was war drin?« Keine zusammengeknüllten und wieder glattgestrichenen Tageszeitungen aus Reutlingen oder Dresden im Altpapier liegen sehen. »Wo drin?« Keine Noppenfolie mehr im Grüner-Punkt-Müllbehälter. »In dem Paket.« Keine silberne Teekanne mehr im Schrank, in dem sie alte Übertöpfe aufbewahrte. Füller zwischen schwarzen Socken. »War unfassbar günstig.«

Die Einbrecher hatten die Sideboards geöffnet, mit einem Kuhfuß, der Beamte deutete auf die parallelen Schrammen im Holz. Die oberen Scharniere waren abgerissen, die Türen hingen schief, ließen Dreiecke frei, durch die sie in das Innere der Schränke sehen konnte, Akten, hatte sie gedacht, Patientenakten würde Claas dort aufbewahren.

Eine Weile hatte sie sich bemüht, vor ihm zu Hause zu sein, hatte die Pakete bei den Nachbarn abgeholt, hinter den Abendkleidern in ihrem Schrank versteckt. Er brauchte zwei Wochen, um zu fragen. »Hör auf«, hatte sie gesagt.

Eine Reihe identischer, weißer Hände, ausgestreckt und anmutig gespreizt im ersten Dreieck, fein gearbeitet aus Porzellan, die Fingerspitzen berührten gerade noch einen goldenen Ball. Die Figuren standen exakt hintereinander, so, als balancierten sie nicht im Holzfach einer psychotherapeutischen Praxis, sondern 1936 im Olympiastadion.

Sie hatte die Pakete aus dem Versteck geholt, sie auf dem Esszimmertisch aufgereiht. »Versprochen«, Claas hatte eine Hand auf die Brusttasche seines Hemdes gelegt, zwei Finger erhoben. »Sei nicht kindisch«, hatte sie geantwortet, »kauf einfach nichts mehr.«

Mit gummibehandschuhten Fingern hatte der Beamte die Tür weiter zur Seite geschoben, die Kante hatte einen dunklen Strich in den Teppich gezeichnet. Elefanten waren sichtbar geworden, graue, weiße, braune, Stoßzähne und Rüssel in eine Richtung ausgerichtet, als warteten sie auf die Handbewegung eines Zirkusdompteurs, die ihnen befahl, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sieben identische Kakadus zählte Theresa, alle mit einem Zweig im Schnabel. In einem anderen Dreieck standen nur Pferde. Claas deutete auf einen kleinen Hund, der mit einem Frosch spielte, »ein Einzelstück«, er blickte sie an, als erwarte er, dass sie lachen würde, lächeln zumindest. »Was ist das?«, der Polizist hatte sich an beide gewandt. »Keine Ahnung«, hatte Theresa geantwortet und sich umgedreht. »Porzellan«, hörte sie Claas sagen.

Sie hatte in den Rückspiegel gesehen, ehe sie losfuhr, Claas hielt die Glastür am Empfang auf, hatte sie auf Schäden überprüft, die Wand dahinter betrachtet, wo der Türgriff gegengeschlagen war.

Sie musste sich nicht beeilen, es war vorlesungsfreie Zeit, in nicht mal achtundvierzig Stunden sitzt du im Flugzeug, dachte sie und fuhr auf die Auffahrt zur Stadtautobahn. Claas hatte schon als Kind gesammelt, kleine Blechautos zum Aufziehen. Sie hatte sich auf ihre Hände setzen müssen, als er ihr die verschiedenen Fahrzeugtypen erklärte, die jeweiligen Vor- und Nachteile. In einem Café am Winterfeldtplatz hatten sie gesessen, hatten sich gerade kennengelernt, gefrühstückt, jenseits der beschlagenen Scheibe dämmerte es. Sie hatte die Hände unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie nicht in die Haare über seiner Stirn zu schieben, ihre gespreizten Finger in braune Strähnen. Das Kondenswasser war an der Scheibe herabgelaufen, hatte kleine Pfützen unter der Heizung gebildet. Claas hatte konzentriert auf die Tischplatte gesehen, ihr den Aufziehmechanismus erklärt, beschrieben, wie er die Räder geölt und nach welchem System er sie geordnet hatte. Wie die Holzkiste aussah, in der er sie aufbewahrte. »Und wo sind die Autos jetzt«, Theresa hatte ihre Finger zwischen seine gedrängt, die Handrücken rot-weiß gestreift, Druckstellen ihrer Cordhose. »Weg. Mit dem Hammer hat er sie zerkloppt. Hat die Kiste mitgenommen, in den Keller zu seiner Werkbank. Jedes Auto einzeln, deng, deng, deng.« Bei jedem Deng hatte Claas mit der Hand auf den Tisch geschlagen, das beiseitegelegte Besteck klirrte auf den Tellern, seine Lippen hochgezogen bis zum Zahnfleisch, die Zähne freigelegt. »Meine werte Frau Mutter war der Auffassung, ich sei faul.« Das werte Frau Mutter misslang, bitter seine Stimme.

Die Stadtautobahn war leer am späten Vormittag, Theresa sah der Tachonadel zu, die sich Strich für Strich vorarbeitete. Sie hielt eine Vorlesung, ein rechtsvergleichendes Seminar pro Semester. Die Vorlesung war ein Witz, Sprachkompetenz, nicht Rechtsvermittlung sei das Ziel der Veranstaltung, stand im Vorlesungsverzeichnis. Der Kollege, der Einführung in das englische Recht hielt, projizierte sein Skript per Beamer an die Wand und las es vor, der Aussprache halber.

Abfahrt Hohenzollerndamm, sie könnte weiterfahren, im Kreis, die Stadtautobahn entlang, das musste gehen, einmal im Kreis, sie fuhr auf die Abfahrt. Unter Juristen gilt ein Psychologe nichts. Theresa wartete auf die Ruhe, die sich einstellte, wenn sie die dichten Baumkronen der Gärten und Parks zwischen den Häusern sah. Dahlem, Heimat. Genau dafür hatte sie studiert. Sie hatte zwischen sauberem Grün und weißen Mauern, von denen der Anstrich nicht abplatzte, unbehelligt nachdenken wollen. Im gelben Geröll und rötlichen Staub ihrer Kindheit, in dem die Sonne binnen Stunden aus allem die Farbe sog, war Grün Wohlstand gewesen. Pflanzen wuchsen, wo Wasser war, und Wasser war, wo es hingegossen wurde, aus Eimern, Gießkannen und Schläuchen. Wenn sie erschöpft war, stellte sie sich Moos vor, viel Moos. Weich stellte sie es sich vor, nicht drahtig. Feucht, ja, ein wenig, aber auf eine gute Art, auf eine Art, die sofort trocknet, wenn man lange genug auf dem Moos gelegen hat und wieder aufsteht und in die Sonne geht. Denn im Moos ist es schattig, aber so, dass man Sonne dahinter weiß und nie friert.

*

Ebba betrachtete den Schweiß in den Senken ihres Torsos, sie lag auf dem Rücken, tunkte einen Zeigefinger in die Lache neben ihrem Hüftknochen, zog einen glänzenden Strich den Hügel hinauf zum Nabel. Drückte mit der Linken den Gummiknopf mit dem grünen Hörersymbol, wartete, bis sie gedämpft die Ansage hörte, Sie haben eine neue Nachricht, ehe sie das Handy ans Ohr hielt. Streckte es gleich wieder von sich weg, als Theresas Stimme ertönte, legte es auf die Matratze, neben ihren Kopf, der anthrazitfarbene Kunststoff schweißnass.

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