Bei den neuen Geschäften war seltsam unklar, was sie verkauften. In den Schaufenstern hingen Plakate, neben den Türen standen Aufsteller mit bunter Schrift. Selten waren es Wörter, meist nur Buchstabenfolgen, Abkürzungen oder Englisch, sie war nicht sicher. In manchen Läden reihenweise Tische mit Computern, Internetcafés, das hatte sie gelernt, aber auch hier blieb unklar, was genau dort angeboten wurde.
Vor Günthers stand eine Küchenanrichte auf dem Gehweg, daneben ein Tisch mit Plastikkörben, in denen, so gingen sie kaputt, nicht einmal sortiert, dachte Elsa, Vasen und Aschenbecher lagen. Brillen und Blechdosen und Kaffeetassen. Einen Sommer lang hatte Günthers, Wohnungsauflösungen, Kellerentrümpelungen, hole alles ab , stand auf dem Schild, alles doppelt unterstrichen, sie gezwungen, einen Umweg zu machen, hin und zurück mit dem Einkauf. Erikas Telefontisch hatte auf dem Gehweg gestanden, ihr Schirmständer, der rot-schwarz karierte Papierkorb. Später die kleine Kommode aus dem Flur, Erikas Handschuhe, Mützen, Schals, reine Schurwolle, die in ordentlichen Stapeln zwischen Mottenpapierstreifen in die Schubladen gehörten, lagen daneben. In einem Pappkarton, 1 Euro stand auf dem Schild. Das Geschirr mit dem orangebraunen Blumendekor, sie hatten es zusammen gekauft, bei Karstadt, dreimal die Woche Kaffee daraus getrunken, befand sich ebenfalls in einem Karton, 2 Euro/Stück . Sie hatte Erikas Nachtschrankschublade aufgezogen, zum ersten Mal, fiel ihr auf, Einwegspritzen, verschweißte Kompressen, das Blutzuckertestgerät, das aussah wie ein Kugelschreiber. Ein Zettel, auf dem Insulin bestellen!!! stand, darunter die Daten 18.01. und 18.03. Schlächter, hatte sie gedacht, die Porzellansplitter auf dem Boden des Geschirrkartons betrachtet. Zerstückelt hatte er sie, die Überreste in zweiundzwanzig Teile zerstückelt und dann verteilt. Elsa hatte ihre Handtasche geöffnet, die Kompressen, die Spritzen, das Testgerät mit beiden Händen zusammengerafft und hineingetan. Das ist Diebstahl, hatte sie gedacht, den Zettel in die Rocktasche gesteckt. Die Schublade hatte sie offen gelassen, war rasch weitergegangen. Zu Hause hatte sie nicht gewusst, wohin mit den Sachen, hatte sie eine Weile in der Tasche mit sich rumgetragen, sie schließlich im Verbandskasten in der Küche untergebracht.
Am nächsten Tag war sie an der Ecke weiter geradeaus gegangen, erst bei der nächsten Querstraße rechts abgebogen, und dann wieder links, hatte sich von hinten an den Edeka herangeschlichen. Erikas Nichte aus Stuttgart hatte sie nicht kennengelernt, ein Anwalt war mit der Abwicklung des Nachlasses betraut gewesen, so hatte er sich ausgedrückt, als er sie um den Zweitschlüssel von Erikas Wohnung bat.
Fast wäre sie am Edeka vorbeigegangen, Elsa nickte der Kassiererin zu, der bayerischen, sie brauchte keinen Wagen, ein Korb reichte, sie kannte sie alle, die Bayerische rollte das R und sagte Grüß Gott.
»Der Junge kommt«, sie legte die Gummibärchen auf das Kassenband.
»Das ist fein«, die Bayerische lächelte, zog die Schokoladentafeln über den Scanner, einer ihrer Schneidezähne war dunkel verfärbt.
Erika hätte sie gescholten, hätte nie verstanden, wie glücklich es machte, ihn anzusehen. Gewiss, sie steckte ihm was zu. Nicht viel, einen Zehner oder Zwanziger, nur wenn sie nichts anderes im Haus hatte Fünfziger. Sie faltete sie vorher. Ihm einen glattgestrichenen Schein aus ihrem Portemonnaie zu reichen, zum Abschied womöglich, erschien ihr nicht recht. Machte es schäbig. Sie faltete die Scheine in der Mitte, gab acht, die Kanten genau aufeinander zu legen, fuhr mit den Nägeln über die Falz, kniff das Papier zusammen und faltete wieder die Mitte. So lange, bis der Schein zu einem kleinen quadratischen Paket geworden war, sie wickelte Band drum, machte eine Schleife, ein kleines Geschenk. Sie legte das Paket auf seine Untertasse, neben den Teelöffel. »Sieh, was die Wichtel gebracht haben«, sagte sie.
***
Das Treppenhaus erlösend kühl, die Wände beinahe feucht, Nicolai berührte sie im Vorbeigehen mit der Hand, stellte sich vor, die Stirn an sie zu legen, seine Schläfen. Die Übelkeit hatte sich festgesetzt, zwischen Magen und Lunge, eine wabernde Schicht, die sich hob und senkte. Bei den ersten Stufen übersäuerten die Muskeln, er fühlte seine Oberschenkel, seine Waden, den Puls in den Ohren.
Er hatte sie gestern besuchen wollen, es fiel ihm schwerer regelmäßig hinzugehen als am Anfang. Du musst, hatte er sich beschworen, an Helge im kalten Kühlschranklicht gedacht. Und pleite war er auch. Gestern war er trotzdem im Tier gelandet. Jahrelang war das Tier ein Dönerimbiss mit ein paar Tischen, einem stumm geschalteten Fernseher und zwei Spielautomaten gewesen. Die Bergfototapete war geblieben, wo die Automaten gestanden hatten, ragte ein Tresen aus gebürstetem Edelstahl in den Raum. Nicolai hatte sich ins Schaufenster gesetzt und zugesehen, wie das Tier sich füllte, auf Sebastian gewartet. Die Männer trugen Brillen, arbeiteten bei Agenturen, Ton, Text, Bild, was auch immer, sprachen von ihren traurigen Seelen und tranken polnisches Bier. Die Frauen waren schlank, viel gebräunte Beine, viel Sonnenblond. Er unterhielt sich mit einer Schauspielerin, sie sei zu schön für die hässlichen und zu hässlich für die schönen Rollen, wiederholte sie ständig. Sie tranken Wodka, viel Wodka, er zahlte. Sebastian kam nicht, sie redete von Castings, Agenten, bis sie irgendeinen Typen sah, den sie kannte, »ich bin gleich wieder da«, sagte sie. Auf dem Weg nach draußen hatte er sie noch einmal kurz im Gedränge gesehen.
Nicolai drückte den Klingelknopf, hörte es in der Wohnung schrillen, legte die Hände hinter dem Rücken ineinander, artig, das mochte sie. Sie brauchte lange, er atmete ein, nicht ungeduldig werden, tief ein, die Übelkeit dehnte sich aus wie eine Wolke, an schwarze Tinte in klarem Wasser musste er denken, er hatte letzte Woche eine Dokumentation über Kraken geschnitten, musste aufstoßen, Saures in seinem Mund. Manchmal ließ sie ihn warten, mit Absicht warten. Nicolai konnte dann ihre zaghaften Schritte hinter der Tür hören, wie sie stehen blieb, vielleicht das Holz berührte. Oft gab sie nicht acht und der Türspion, das kleine Guckloch, verdunkelte sich. Wenn sie schließlich öffnete, war sie besonders freundlich. Seine Finger hingen einige Sekunden in der Luft, ehe sie erneut den Plastikknopf drückten. Er zählte die Sekunden, zweiundzwanzig, keine Schritte auf den Dielen, dreiundzwanzig, keine Tür wurde geöffnet, keine geschlossen, vierundzwanzig, kein Räuspern, nichts. Er sah sie vor sich, in ihrem Sessel, neben ihr das Telefontischchen mit den beigefarbenen Kacheln, auf die in Schwarz die Silhouetten westdeutscher Städte gemalt waren. Unter dem Telefon, grün und mit Wählscheibe, lag ein Deckchen, daneben ein Becher mit Stiften, Notizblock und Adressbuch in braunem Leder. Fünfundzwanzig, sie saß still, sechsundzwanzig, hielt den Atem an, siebenundzwanzig, traute sich nicht, ihr Gewicht zu verlagern, achtundzwanzig, hatte beschlossen, nicht mehr zu öffnen, neunundzwanzig, nie mehr. Unsinn, dachte er.
Anfangs hatte er versucht, mit ihr zu reden. »Nur wir sind übrig«, hatte er gesagt und sie angesehen. Ihre Mundwinkel bewegten sich automatisch nach oben, schräg oben, sobald ihr Blick seinem begegnete, Lachfalten auf beiden Seiten, Grübchenstafetten. Die Mundwinkel rührten sich nicht, blieben oben, wenn er von Wurzeln und Genen sprach, von Ursulas Körper, der geschrumpft war, während ihre Haut die alte Größe behielt, von wachsenden Augen und verschwindenden Haaren. Wie festgesteckt, wie Stofffalten, mit Stecknadeln festgesteckt, jedes Grübchen eine Nadel. Sie zitterten nicht, senkten sich nicht, wenn er das Lächeln nicht erwiderte, sie nur ansah. Wohlwollend, wie er meinte, offen für eine Erklärung, Rechtfertigung, Trauer vielleicht. Sie lächelte mit geschlossenen Lippen, die Lippen dünnhäutig, als könnten sie jeden Moment reißen. »Hat Erika gemacht«, sie hatte auf die Tischdecke gedeutet, auf die altweiß gehäkelten Rosetten.
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