»In die Praxis ist eingebrochen worden, Tula hat angerufen, der Flachbildschirm vom Empfang fehlt und der aus Claas’ Zimmer.« Ebbas Fußspitze schob das Laken vor dem Fenster ein Stück zur Seite, der gleißende Spalt ließ sie die Augen schließen, es würde ein furchtbarer Tag werden. »Wir fahren jetzt rüber und reden mit der Polizei.« Die Türklingel schrillte, unwillkürlich bedeckte Ebba das Telefon mit der Hand, als könne Theresa den Ton hören. »Claas muss nach Frankfurt, ich bring ihn danach zum Bahnhof.« Theresa machte eine Pause, Ebba sah an sich herab, schwarze Fussel klebten auf der Haut zwischen ihren Zehen, es klingelte erneut an der Tür, länger diesmal. »Und ich wollte dir viel Glück für deine Klausuren wünschen, lies die Aufgabenstellung immer zweimal durch, dann klappt es schon.« Theresa atmete tief ein, der Boden im Treppenhaus knarrte, als würde jemand sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagern. »Und sag Bescheid, wie es gelaufen ist.« Es liegen keine weiteren Nachrichten für Sie vor.
Nach dem Praktikum war Ebba nicht mehr hingegangen. Die Praktikumsstelle hatten Claas und Theresa für sie gesucht, drei Monate im Kinderhaus Wunderbar, jeden Nachmittag frieren im Streichelzoo. Die Schafe hatten im Schlamm gestanden, in Urin und Kot, zusammengedrängt in einer Ecke, ihre Beine, die verfilzte Wolle an den Bäuchen braun verfärbt. Sie hatte zugesehen, wie die Tiere Futterpellets von den Kinderhandflächen sammelten, die Haut mit Speichel und zerkautem Grünzeug beschmierten. Dina war mit Gummistiefeln durch die Pfützen gestapft, hatte kleine Bugwellen vor den Schäften hergeschoben, dicht vor Ebba haltgemacht und gelacht. War auf der Stelle hochgehüpft, mit beiden Füßen gleichzeitig gelandet. Kalt war das Wasser, es drang durch den Stoff ihrer Jeans, eisig auf ihren Oberschenkeln, sickerte in ihre Socken. Dina hatte weitergelacht, »dicke Ebba« gerufen. Sie war selber überrascht gewesen von der Wucht, mit der ihre Handflächen auf Dinas pinkfarbener Jackenbrust landeten. Sie zurückstießen, wegschubsten. Dina war nach hinten gefallen, in die Pfütze, braun schwappte es über ihre Beine, die Pfütze mindestens knöcheltief. Dina schlug mit dem Hinterkopf auf, nicht doll, es reichte, dass sich ihre Mütze vollsog, ihre Haare tropften.
In der ersten Woche war Ebba dazwischengegangen, wenn die anderen Kinder darfst nicht mitspielen, darfst nichts anfassen, geh weg zu Dina sagten. Sie hatte sich zu ihr gesetzt, Tiermemory gespielt. »Lass das« gesagt, als ein Junge Dina schubste. »Dicke Ebba«, hatten sie gerufen, erst der Junge und dann Dina, freudestrahlend.
Sie war beurlaubt worden, Vorfall nannte es die Kindergärtnerin.
***
Zu früh, er kam viel zu früh. Elsa Streml stand im Flur, als es klingelte, hatte gerade geduscht, war auf der Toilette gewesen, es roch unvertretbar. Sie hatte das Fenster gekippt, hatte gesprüht, doch das würde nicht reichen. Normalerweise kam er nachmittags, gestern Abend hatte sie die Pfannkuchen mit Klarsichtfolie überzogen, den Teller in den Kühlschrank gestellt, gestern hatte sie auf ihn gewartet, und jetzt kam er viel zu früh.
Er war ihr Enkel. Nicht ihr richtiger Enkel natürlich, nicht Fleisch von ihrem Fleisch, er war ein Hochstapler. Er lächelte sehr schön, mit rosafarbenem Zahnfleisch und sauberen Zähnen, er rauche nicht, sagte er. Ein Felix Krupp, nein Krull.
Er hatte eines Tages vor der Tür gestanden, oben, nicht unten. Am frühen Nachmittag, Elsa war gerade mit der Küche fertig gewesen, hatte sich hinlegen wollen, hatte innegehalten, die Klinke der Wohnzimmertür schon in der Hand. Erika, hatte sie gedacht, sich sogleich ein dummes Ding gescholten. Er hatte sich verbeugt, ein wenig nur, den Kopf geneigt. »Guten Tag, sind Sie Frau Streml?«, hatte ihre Antwort nicht abgewartet, »Sie kennen mich nicht …« – »Ich kaufe nichts«, sie hatte die Tür zuschieben, die Kette vorlegen wollen. – »Aber ich bin Ihr Enkel.« Der Satz drängte sich vor, trat auf die Fußmatte, streifte sorgsam die Sohlen ab und schlich an ihr vorbei in die Wohnung. »Sie irren, ich bin kinderlos«, den Kopf hatte sie geschüttelt. Er trug ein Hemd, ein richtiges, mit Knopfleiste vorn und Kragen, darüber einen Pullover, mit v-förmigem Ausschnitt. Er hatte seine Hand ausgestreckt, sie hing in der Luft, hing über der Schwelle, seine Fingernägel kurzgeschnittene weiße Halbmonde, die Haut sehr glatt. Er hatte graue Augen, ihre waren braun, wie Hustenkaramellen, behauptete Erika. »Treten Sie näher«, hatte Elsa schließlich gesagt. Er hatte sich nicht gerührt, sie hörte seine Stimme, konnte keine Worte ausmachen, hielt das Türblatt noch in der Hand. Er konnte gar nicht näher treten. »Wie heißen Sie«, hatte sie gefragt und einen Schritt zur Seite gemacht. »Nicolai«, er sah irritiert aus, »dein Enkel. Ihr Enkel«, er hatte sich korrigiert nach einer kurzen Pause. Er machte seine Sache gut. Elsa war einen weiteren Schritt zurückgetreten, er roch nach Rasierseife. Meist kam er zweimal die Woche, nachmittags, nicht immer an den gleichen Tagen, das machte es schwer, vorbereitet zu sein. Sie hatte ihn gestern erwartet, hatte abends den Tee, er trank keinen Kaffee, in den Ausguss geschüttet.
Die Klingel schrillte erneut, Elsa starrte die Tür an, lauschte dem Ton hinterher, ungeduldig klang er. Es klopfte, drei Mal, schnell hintereinander.
»Ich komme«, rief sie, atemlos plötzlich, »ich komme ja.«
Es musste etwas passiert sein, die Kette war noch eingehakt, jemand war verunglückt, der Schlüssel steckte von innen. Elsa drehte ihn, drehte einmal, drehte zweimal und zog die Tür auf.
Er war es gar nicht. Es war ein Fremder, mit grauen Haaren und einer blauen Schirmmütze über dem Handgelenk. Sie versuchte Luft einzuziehen, ohne dass der Mann es merkte, ohne dass sich ihre Nasenflügel weiteten.
»Einen guten Morgen«, sagte er, und Elsa war sicher, er roch es ebenso wie sie, frischer Toilettengang, eingekleidet in Lavendel. »Wir sind der Ablesedienst.« Der Mann sah an ihr vorbei in den Flur.
Richtig, sie hatte die Heizkörper frei geräumt, gestern Abend das Telefontischchen beiseitegeschoben, es war ihr entfallen. Der Becher mit den Stiften war dabei umgekippt, sie hatte sich hinknien müssen, um sie aufzusammeln.
Elsa sog erneut Luft ein.
»Können Sie später wiederkommen?«
Der Mann schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei, deutete auf die Tür am Ende des Flures.
»Wohnzimmer?«
Sie nickte. Ging in die Küche und öffnete das Fenster, öffnete es weit. Im Hinterhof wuchsen Sträucher mit weißen Beeren, als Kind hatte sie die Tretminen genannt. Eine Reihe Mülltonnen, gelb, blau, schwarz und braun, stand vor der Mauer, die den Hof vom Parkplatz dahinter trennte. Elsa konnte den Mann im Wohnzimmer hören, es klang, als würde er irgendetwas festschrauben. Auf der Mauer waren Stränge rostigen Stacheldrahts gespannt, Krähen mit durstig geöffneten Schnäbeln saßen darauf, der Parkplatz war leer, eine Reihe flacher Garagen, die Tore grau gestrichen. Sie hörte Schritte im Flur, er ging ins Schlafzimmer, danach käme das Bad. Rasch öffnete sie die Kühlschranktür und holte den Teller hervor.
»Warten Sie«, rief sie. Der Mann drehte sich um. »Kommen Sie hier herein.«
Elsa deutete auf die Pfannkuchen, große Placken Zuckerguss fehlten, die Löcher sahen aus wie Inseln in einem klebrigen Meer.
»Sie sind kaputtgegangen«, sie hatte vergessen, die Klarsichtfolie in den Müll zu tun, sie lag neben dem Teller, weiß verschmiert, »der Guss ist kleben geblieben.«
Er aß den Kuchen mit wenigen Bissen, sah aus dem Fenster, Pflaumenmus quoll auf seinen Daumen.
»Darf ich?« Der Mann zeigte auf die Spüle, wusch sich die Hände, trocknete sie an einem Geschirrtuch ab.
»Ist es viel«, fragte Elsa, als er gehen wollte.
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