»Hinlegen«, sagten sie, »legen Sie sich hin.«
Die alte Frau fasste nach der Plastikglocke über ihrem Mund, mit Gummibändern war sie am Hinterkopf befestigt, und zog sie runter.
Sie wohnte neben Ebba, vielleicht holen sie gleich Ebba, dann könnte er sie vorweisen, wenn Theresa ankam. Haus abgebrannt, aber Tochter nicht verloren. Er könnte jemanden fragen, dachte er und rührte sich nicht. Er stand unter Schock, deshalb war ihm das so gleichgültig, ein Schutzmechanismus, ganz normal. Zweite Viktimisierung innerhalb weniger Monate, erst der Einbruch und jetzt, nein, es waren mehr, der Auszug, das Vasenrondell im Arbeitszimmer, Theresas Stimme, die »mein Mann wohnt hier nicht mehr« sagte.
Ob er die Mobilnummer von Jürgen Schmidtke hätte, wurde Claas gefragt. Ob er wisse, wo Herr Schmidtke arbeite? Verwandte hätte, vielleicht gäbe es eine Mietbürgschaft oder ähnliche Unterlagen, aus denen das ersichtlich wäre? Nein? Er sei doch der Hauseigentümer? Claas nickte, der Beamte war älter als er, sah ihn lange an. Nicht nervös werden, nicht die Atmung verändern, nicht Heizlüfter und trockene Dielen denken, Blick ruhig erwidern.
*
Sport war ausgefallen, Lucas musste einkaufen, wollte zurück sein, bevor Ümit kam. Er sah sie, sobald er um die Ecke bog. Nebenan, dachte er zuerst. Keine Sirenen, nur die Lichter auf den Autodächern, stumm strahlten sie Schnee und Hauswand immer wieder blau an. Blau. Und aus. Und blau. Und aus. Und blau.
Das Amt, dachte Lucas, das hatte er befürchtet. Es war verboten, wegzulaufen, er war nicht sicher gewesen. Sie hatten es gemerkt, waren gekommen, um ihn zu holen, hatten die Polizei mitgebracht. Der Brief über die Klassenfahrt, sie hätte ihn unterschreiben müssen, er hatte geübt, lange, am Küchentisch, war am Ende zufrieden gewesen. Unterschriftenfälschung, das war auch verboten. Oder sie standen im Supermarkt, verkleidet, und wenn ein Kind oft alleine einkaufte, kamen sie. Er war immer zu Edeka gegangen, der war am nächsten.
Frau Streml. Er blieb wieder stehen, Frau Streml konnte ihn verraten haben. Meins war blau, hörte Lucas sie sagen, er betrachtete den Schnee. Wichtel, vielleicht glaubten sie ihr trotzdem, weil sie erwachsen war. Stehenbleiben war auch falsch, war verdächtig, Weglaufen auch. Er musste an ihnen vorbeigehen, sie hatten bestimmt ein Foto von ihm, er musste ganz langsam an ihnen vorbeigehen, weggucken. Die Kapuze. Er hatte eine Kapuze, wickelte den Schal vom Hals. Dir ist kalt, dachte er, es muss aussehen, als wär dir kalt, er setzte die Kapuze auf und wickelte den Schal darüber, um seinen Hals, sein Kinn. Er traute sich nicht, ihn über Mund und Nase zu ziehen wie ein Bankräuber.
Seltsamerweise waren die meisten Autos orangerot-weiß, nicht grün-weiß, und einige sehr groß, mit Leitern, silbern und zusammengeklappt, auf den Dächern. Die Feuerwehr. Kommt die, wenn man was Verbotenes macht, da roch er es. Stechend wie die Kohle im Grill, die er im Sommer mit Ümit und seinem Bruder ausgepinkelt hatte. Gezischt hatte es. Nicht starren, dachte er, vorbeigehen und weggucken und schnell hinein in den Hausflur.
Frau Streml, beinahe wäre Lucas wieder stehen geblieben. Sie saß, wurde gefahren, auf einer Art Bett, sie war in etwas Silbernes gewickelt, winzig sah sie aus, ein wenig wie Yoda. Zwei Männer in rot-weißen Jacken stellten sie vor die geöffneten Türen eines Krankenwagens, Frau Streml sah ihn an. Weggucken, dachte Lucas und blickte doch hin, ihre Hand hob sich unter dem Silbernen, ein Hügel an der Seite, der wuchs, ein ausgestreckter Finger kam am Rand hervor, sie deutete auf ihn. Die beiden Männer hantierten an dem Krankenwagen, Lucas hörte ein metallisches Geräusch, etwas rastete ein. Sie wandten sich um, zogen das Bett näher zur Ladefläche, Frau Stremls Hand sah immer noch unter der Folie hervor. Einer der Männer beugte sich zu ihr herab, sie sagte etwas zu ihm. Schnell, dachte er und sah zu Boden, starrte den Schnee an, blau, aus, blau, aus, schnell an ihnen vorbei.
»Moment«, sagte der Mann und stand in seinem Weg, »du wohnst hier?« Wartete seine Antwort nicht ab, wandte sich an eine Polizistin, tippte ihr auf die Schulter. »Der junge Mann wohnt hier.«
»Hallo«, sagte die Polizistin, sie trug keine Mütze, aber sonst war sie in Uniform, an ihrem Gürtel hingen Handschellen. Lauf, dachte Lucas und blieb doch stehen. »Wie heißt du?«
»Lucas«, sagte er, »Schrader«, setzte er hinzu, als sie ihn weiter ansah. Sie hob ihre Hand, hielt ein Papier, eine Liste, so viel konnte er erkennen.
»Dann gehörst du wahrscheinlich zu Schrader, Manuela«, sagte die Polizistin schließlich.
Lucas nickte.
»Erstes OG?«
Er nickte wieder.
»Im Erdgeschoss hat es gebrannt, im Ersten nicht, da ist wohl alles in Ordnung. Keine Angst, deine Spielsachen sind alle unversehrt«, sie lächelte, »die Bauaufsicht muss sich das angucken, wegen der Statik, solange gilt das Haus als unbewohnbar.«
»O.k.«, sagte Lucas, die Frau lächelte noch immer, vielleicht ließ sie ihn gehen.
»Deine Mutter?«
»Bei der Arbeit«, sagte er, »kann ich hochgehen?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf, nein.
»Mir ist kalt«, sagte er.
»Komm mit«, sagte sie, und er folgte ihr, sie sah aus, als könne sie schneller rennen, und am Gürtel waren die Handschellen. Sie ging zu einem Polizeiauto und öffnete eine der hinteren Türen.
»Ich mach die Standheizung an«, sie griff nach seinem Ranzen, »den nehme ich«, sagte sie. Einen Moment wusste Lucas nicht, was er tun sollte, dann zog er die Arme aus den Riemen und stieg ein. Die Polizistin legte den Ranzen auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Lenkrad, hielt ihr Telefon in der Hand.
»Die Nummer«, fragte sie.
Lucas sah sie an, wahrscheinlich hatte jeder Mensch eine Nummer, wie sollte die Polizei sonst auch wissen, wen es alles gab. Er kannte seine nicht, bestimmt musste man sie kennen.
»Von deiner Mutter? Bei der Arbeit? Oder ihr Handy?«
»Sie hat ihr Handy heute zu Hause gelassen, ihr Guthaben ist alle«, das klang glaubhaft, fand er.
»Und bei der Arbeit? Weißt du die auswendig?«
Lucas schüttelte den Kopf, »man darf sie nicht bei der Arbeit stören«.
»Wo arbeitet sie denn?«
»In der Pflege.«
»Bei welchem Dienst?«
Er zuckte die Schultern, »Schmerzpatienten«.
»Ja, aber für welche Einrichtung? Wir können im Büro anrufen, damit sie ihr Bescheid sagen.«
Er antwortete nicht.
»Wann kommt sie denn nach Haus?«
»Abends. Ich habe einen Schlüssel. Kann ich hochgehen, ich warte immer auf sie. Sport ist ausgefallen, darum bin ich so früh hier.«
»Ich komme mit hoch«, die Polizistin öffnete ihre Tür, »keine Sorge, wir finden die Nummer schon.«
Sitzen bleiben, er wollte sitzen bleiben. Es ist etwas unordentlich, könnte er sagen, meine Mutter macht Überstunden. Mag es nicht, wenn fremde Menschen in die Wohnung gehen. Doch sie öffnete seine Tür von außen, Schneeflocken fielen auf das Polster neben ihm. Sitzenbleiben war verdächtig, er musste so tun, als wäre es ihm egal.
»Na gut«, sagte Lucas und nahm den Ranzen.
»Keine Angst, das Feuer ist aus«, sagte sie auf der Treppe.
»Ich habe keine Angst.« Lucas zog den Schlüssel aus der Tasche, auf dem Küchentisch lagen die Briefumschläge. »Sie können hier warten«, er sah hinab auf die Schwelle, »ich hole die Nummer.«
Doch sie folgte ihm, blieb im Flur stehen, reckte den Kopf und blickte in die Küche. Er hatte gestern abgewaschen, die Briefumschläge wurden von der Frosties-Packung verdeckt. Er musste vor ihr an seinem Schreibtisch sein, einen Stift nehmen, ein Stück Papier, zog im Vorbeigehen die Badezimmertür zu, damit sie die Wäsche in der Dusche nicht sah.
Erst fielen ihm keine Zahlen ein, schließlich schrieb er 24 031 980 , das war ihr Geburtsdatum, es sah richtig aus, als könne man dort anrufen. Sie sind vor Kurzem umgezogen, mit dem Büro, würde er sagen, vielleicht haben sie eine neue Nummer. Ich darf das, würde er sagen, wenn sie nach dem Außenposten fragte.
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