»Hallo«, sagte er schließlich.
Die Dicke nickte ihm zu, ihre Augenbrauen zusammengezogen, als verstünde sie auch nicht.
»Die Mama ist wieder da«, Frau Streml lächelte, nahm Lucas’ Arm und führte ihn durch das Wohnzimmer, um den Tisch herum, bis er neben dem Stuhl der Blonden stand. Frau Streml legte seine Hand auf die der Dicken auf dem Tisch. Warm war die Hand, schüttelte seine mit einer ruckartigen Bewegung wieder ab.
»Manuela ist meine Mutter«, sagte Lucas.
Frau Streml ging zu dem flachen Schrank neben dem Sofa, schien ihn nicht gehört zu haben.
»Ich hol dir einen Teller«, sagte sie.
Lucas zog seine Jacke aus, legte sie aufs Sofa.
»Meine Mutter heißt Manuela«, wiederholte er, die dicke Blonde sah zum Fenster.
Die Glasschale war fast leer, Lucas nahm die beiden letzten Gummibärchen, steckte sie rasch in den Mund.
Frau Streml strich ihm über die Haare.
»Ich habe mehr in der Küche«, sagte sie.
»Du heißt gar nicht Ursula«, sagte Lucas zu der dicken Blonden, sobald Frau Streml die Tür hinter sich geschlossen hatte. Jansen stand auf ihrem Briefkasten, Ebba Jansen auf der Post, sie leerte ihn nicht jeden Tag, häufig ragten Umschläge und Prospekte aus ihm heraus.
»Und du bist auch nicht ihr Enkel«, antwortete sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.
***
Geht ein Mann verloren im Schnee. Schöner Satz, dachte Nicolai und sagte ihn laut. »Geht ein Mann verloren im Schnee«, Atemwolken vor den Lippen.
Die Spätschicht war gegangen, die Rollläden waren runtergelassen, im Winter schlossen sie früh. Der Zettel klebte nicht mehr am Laternenpfahl. In seiner Heimatstadt gab es eine Engelsstraße, in der hatten im Mittelalter die Engelmacherinnen gewohnt.
»Weg«, hatte der Nachbar gesagt, Nicolai hatte ihn aus dem Haus kommen sehen, kannte ihn aus dem Treppenhaus. »Moment«, hatte er gerufen, der Nachbar hatte die Tür für ihn aufgehalten. »Hat sie was vergessen«, hatte der Nachbar gefragt, als Nicolai vor ihm stand. Sie sei ausgezogen am Wochenende, er habe ihr mit dem Lattenrost geholfen, viel hätte sie ja nicht gehabt.
Unablässig fielen Flocken, hatten die Schneefläche vor dem Café wieder geglättet, die Fußspuren aufgefüllt, Verwerfungen eingeebnet.
»Hier hast du einen Engel«, sagte Nicolai und ließ sich nach hinten fallen. Der Aufprall war hart, mit dem Steiß kam er zuerst auf, vom Schnee nur wenig gedämpft, er fühlte den Stoß in der ganzen Wirbelsäule, seine Zähne schlugen aufeinander, die Zungenspitze dazwischen, Salziges in seinem Mund. Wärme.
Totale, er kippte nach hinten, er würde eine Slowmo reinbauen, seine Arme gingen langsam nach oben, ein Strahl Flüssigkeit stieg aus der Flasche in seiner Hand, einzelne Tropfen setzten sich ab. Schnee stob auf, er würde Musik drunterlegen, I’m the lonely side of you , nein, zu kitschig.
Er streckte die Arme seitlich weg, legte sie in den Schnee. »Ich mach dir einen Engel«, seine Zunge schmerzte, sobald sie an den Gaumen stieß, »einen Eisengel, Schneeengel, was immer du willst.« Schneeflocken fielen in seinen Mund, waren erst rau, ehe sie flüssig wurden.
Er bewegte die Arme seitlich, hoch zum Kopf, sie schoben den Schnee zusammen, zu seinen Schultern, seinem Hals, pressten ihn gegen die Wangen, Ohrläppchen, unter die Mütze, unter den Schal. Er bewegte die Arme wieder runter, in einem Halbkreis bis zu den Oberschenkeln, drückte Schnee gegen die Jacke, Hose, schob die Arme erneut hoch und runter. Der Schnee an seinem Hals schmolz, kalte Tropfen liefen in den Jackenkragen. Immer schneller, hoch und runter, als wollte er sich in den hartgefrorenen Boden eingraben.
Er richtete sich auf, betrachtete die Flügel, sie waren gut zu erkennen, ließ sich wieder fallen, auf die Knie diesmal. Seine Zunge hatte aufgehört zu bluten, er legte sich nach hinten und streckte die Arme aus.
*
Ebbas Sohlen pressten den Schnee zusammen, der Schnee knirschte, er musste sie hören.
Sie war aufgewacht, zur Toilette gegangen, hatte ein Glas Wasser in der Küche getrunken, es war nach vier. Die Fenster der Häuser gegenüber waren noch dunkel, sie hatte hinab auf die Promenade geblickt. Da wälzt sich jemand in Krämpfen, hatte sie gedacht, und an die Wellenlinien, es war zwei Wochen her, dass es still geworden war. Ebba war am Fenster stehen geblieben, hatte ihn erst erkannt, als er sich einmal aufrichtete, schwankend auf seine Beine, die Arme hoch erhoben, den zerwühlten Schnee um sich betrachtend, die Hände zu Fäusten geballt, in die Luft gereckt, als würde er jubeln. Nicht weit von ihm lag ein blauer Punkt im Schnee.
Seine Mütze, wie Ebba feststellte, als sie näher ging. Er bewegte sich nicht, als sie sich neben ihn kniete, schreckte erst hoch, als sie sein Gesicht berührte, seine gerötete Wange, schnell zog sie die Hand zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen, er sah sie an, grau oder hellblau, bei den Lichtverhältnissen schwer zu unterscheiden. Er schloss die Lider wieder, ließ den Kopf zurück in den Schnee sinken, einen Moment lag er still. Das Lachen kam so unvermittelt, dass sie zurückwich, sich ihm nur langsam wieder näherte. Sein Mund weit geöffnet, sie konnte in seinen Rachen sehen, seine Zunge, das Zäpfchen, das hinten hüpfte. Er lachte laut, so, als wolle er unbedingt laut lachen, als zwinge er sich dazu. Dann war er wieder still, sein Brustkorb zuckte noch einmal, zweimal, seine Hände verschränkt.
»Das ist gefährlich«, sagte Ebba, »der Schnee.«
»Hau ab«, er sprach leise, sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
»Du erfrierst«, Ebba beugte sich vor, wollte ihre Arme unter seine Achseln schieben, ihm hochhelfen, über die Promenade, die Treppe hinauf, in ihre Wohnung. »Oben ist es warm«, sagte sie.
»Hau ab«, er öffnete die Augen nicht, schloss fest den Mund.
»Du bist betrunken«, sagte sie, »du stirbst, wenn du hierbleibst.«
»Hau ab«, er richtete sich auf, sein Gesicht ganz nah an ihrem, hellgrau, nicht blau waren sie und halb zugekniffen, sie fühlte seinen Atem warm auf ihrer Wange. »Du fettes Schwein, hau ab.«
Ebba fühlte den Schnee feucht auf ihren Haaren, durch den Stoff ihrer Jeans, an den Schienbeinen, er biss kalt in ihre bloßen Hände, sie lagen auf dem Boden, rechts und links neben ihren Knien, steh auf, dachte sie, geh weg.
»Was willst du von mir?«
Stoß ihn, dachte sie, mit beiden Händen, zurück in den Schnee, drück ihn tief hinein, mit beiden Händen auf seinem Brustkorb und deinem Fettesschweingewicht.
»Ich werde nicht sterben, ich kann auf mich aufpassen. Und jetzt hau endlich ab«, er legte sich wieder in den Schnee zurück, Hände vor dem Bauch gefaltet, Augen geschlossen.
Ebba griff zu, mit beiden Händen, seine Jacke war steifer als gedacht, sie musste ihre Fingernägel in den Stoff krallen, damit er ihr nicht entglitt. Zerren wollte sie, an ihm reißen.
»Hey«, er brüllte, doch das machte nichts, legte seine Hände auf ihre Handrücken, presste ihre Finger zusammen, schmerzhaft rieben Knöchel und Gelenke aneinander. Ebba hörte auf zu ziehen, lehnte sich mit ganzem Gewicht nach vorn, ihrem Fettesschweingewicht, auf seinen Brustkorb. Drückte ihn in den Schnee zurück, drückte so fest, dass sie fühlen konnte, hören konnte, wie seinen Lungen Luft entwich, wie sie sie aus ihm herauspresste, erstaunt sein Gesicht. Er begann mit den Beinen zu strampeln. Erst störte es sie nicht, seine Finger zogen an ihren Handgelenken, bis er sie mit dem Knie traf. Hart und so, dass sie nach vorn fiel, traf er ihren Rücken, neben dem Rückgrat, traf die unteren Rippen. Kurz lag er unter ihr, dann stieß er sie zur Seite, rutschte auf dem Hintern von ihr weg, zog eine breite Rinne in den Schnee.
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