Sie haben geklopft, hast es gleich beim ersten Mal gehört, dachtest, es wäre nebenan. Ob alles o.k. ist, haben sie gerufen. »Ja«, hast du geschrien, wütend plötzlich, hattest Bitte nicht stören draußen an die Klinke gehängt. Schwarz vor Augen wurde dir, als du aufgestanden bist, hast geduscht, den Rest Shampoo aus dem kleinen Fläschchen gepresst. Hast einen der Umschläge geöffnet, bist mit nassen Haaren runter, zur Rezeption, hast das Geld für eine weitere Woche auf den Tresen gelegt.
»Versteckst dich, was«, hat er gefragt, schmal und mickrig in seinem blau-weiß gestreiften Shirt, die Haare blondgrau und fettig, von einem Seitenscheitel geteilt. Seine Augen besehen, von oben nach unten und wieder nach oben, deine Kleidung, als wolle er sie sich für die Personenbeschreibung einprägen.
»Ich sag Bescheid, wegen dem Zimmerputzen, wenn es mir passt«, drehst dich um, gehst auf die sich öffnende Schiebetür zu, gehst hinaus, willst nicht unentschlossen stehen bleiben, sein Blick im Rücken, gehst also nach rechts, die Straße entlang, Mehrfamilienhäuser, eine Bäckerei. Schwindelig wird dir, viel flüssiger Speichel in deinem Mund, gehst weiter bis zu einem Supermarkt. Zwei Pakete Kekse, Würstchen, Ketchup, sogar Shampoo, Duschgel, Knäckebrot, was hält sich noch ohne Kühlschrank, Gurken im Glas, eine Tüte Chips. Er stiert die Tüte an, als du wieder am Tresen vorbeigehst, fragt aber nicht, was drin ist.
***
Nicolai stand noch immer vor der Tür, betrachtete das Klingelbrett, unentschlossen, ob er auf die andere Straßenseite gehen und dort warten oder sich auf den flachen Zaun setzen sollte, den jemand um das Erdviereck der Linde direkt vor ihrem Haus gebaut hatte. Er hatte geklingelt, einmal, zweimal, dreimal, viermal, mit Pausen, mehrmals kurz, direkt hintereinander, hatte seinen Finger auf das kleine Plastikviereck gepresst, minutenlang, so kam es ihm vor, und so fest, dass das Viereck sich verkantete, er es mit dem Fingernagel wieder herauspulen musste. Zur Not könnte er sie so aus der Wohnung treiben.
An der Ecke gegenüber stand ein Stromkasten, auf den könnte er klettern. Er hatte Kaffee gekauft, auf dem Hinweg, zwei Pappbecher, Camille wohnte im Hinterhaus, Gartenhaus stand auf dem Klingelschild, ihre Fenster waren von der Straße aus nicht zu sehen. Sie hatte Spätschicht, er war nach Kreuzberg gefahren, zu dem spanischen Bäcker, hatte drei Natillas gekauft, wollte die weiße Papiertüte vor sie hinhalten, wenn sie aus der Haustür kam, für dich sagen.
Er könnte bei den Nachbarn klingeln. In den Hinterhof gehen und hochblicken, Ausschau halten nach einer Bewegung, die bewies, dass sie da war. Dass sie Licht im Badezimmer einschaltete oder ein Fenster kippte. Er könnte weitergehen, ins Treppenhaus, vorsichtig die Stufen hinauf, bis zu ihrer Wohnungstür, sie ließ unentwegt Musik laufen, die Dusche müsste zu hören sein, das Bad ging als Erstes von dem kleinen Flur ab.
Drei Natillas würden nicht reichen, wenn sie ihn dort anträfe. The person you have called is temporarily not available. Seit vier Tagen nichts als dieser Satz, kein Freizeichen, kein plötzliches Besetztzeichen, weil sie ihn wegdrückte, keine Mailbox. Nicolai überquerte die Straße, sah sich mehrfach um, während er zur Kreuzung ging, der Himmel unterschiedlslos grauweiß, keine Wolke auszumachen, keine Anfänge und keine Enden, eine einzige Fläche. Schneien würde es, hatte die Verkäuferin in der Bäckerei gesagt.
Der Deckel des Stromkastens war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, rau sah sie aus, glitzerte im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Biss kalt in die bloße Haut, als Nicolai die Handflächen auf sie legte. Er hatte sich aufstützen, hochziehen, auf den Kasten setzen wollen, schob die Hände wieder in die Tasche. Er blickte zur Haustür, nichts rührte sich, selbst die Blätter am Rand des Gehsteigs waren festgefroren, in der Mitte weißer Raureif, die Pfützen starr, mit hellen Kratzern vom Streusand.
***
Ebba hatte es erst nicht bemerkt. Sie war aufgestanden, hatte Kaffee gekocht, sich mit der ersten Tüte an den Rechner gesetzt, versucht, das Logo in ein Word-Dokument zu kopieren. Es gehörte mittig nach oben, nicht zu weit oben, über den Schriftzug Abschlusszeugnis , es ließ sich nicht richtig verschieben, immer rutschte es ein paar Zeilen zu tief, und klein sah es aus. Sie hatte mehrere Vorlagen gefunden, sich für: Ebba Jansen, hat vor dem zuständigen Prüfungsausschuss die Prüfung zur staatlich anerkannten ErzieherIn erfolgreich abgelegt. Ihre Leistungen werden mit insgesamt gut (2,1) bewertet entschieden. Hatte zum Fenster gesehen, weiße Punkte, es schneite schon wieder, und mit einem Mal war ihr aufgefallen, dass es still war. Kein Laut, nicht aus der Wohnung unter ihr, früher hatte sie morgens gedämpft den Fernseher gehört, und auch nicht von weiter unten. Kein Maschinentacken, kein Wimmern, kein brünftiges Tier, kein Jaulen, nichts.
Am frühen Nachmittag hatte sie auf der Fensterbank gesessen, er trug sicher eine Mütze, dunkelblau stellte sie sich die Mütze vor, aus Wolle. Das Mädchen sah sie auch nicht. Es war kurz vor drei, als ihr auffiel, dass die erste Schicht nicht nach Hause kam. Und die zweite nicht unten aus der Haustür trat, kurz auf dem Gehsteig wartete, bis alle da waren, und in Richtung Park ging. Sie sind unterwegs, um ihn zu verscharren, hatte sie gedacht, der Boden war tiefgefroren, sie würden Schaufeln brauchen, Spitzhacken vielleicht, hoffentlich wussten sie das.
Sie hatte beschlossen zu klopfen, nicht gleich, am Abend, der Doseninhalt reichte noch ein paar Tage, sein Gesicht wollte sie sehen, wollte wissen, ob er zu Boden blicken würde, kein Handflächenzeigen mehr, kein Schulterzucken, da war sie sicher. Sie hatte gewartet, bis es dunkel wurde, die Laternen gingen an und niemand kam. Sie haben sich zurückgezogen, dachte sie, in das Glühbirnenlicht der Wohnung, sitzen zusammengedrängt auf den Matten, hinter heruntergelassenen Rollläden, wollen es aussitzen, stillhalten. Ebba hatte den ganzen Tag am Fenster verbracht, keiner von ihnen hatte das Haus verlassen, keiner war gekommen.
Still war es hinter der Tür, Ebba klopfte, wieder und wieder. Sie bewegten sich nicht, hielten den Atem an und lauschten, reglos auf den Matten. Sie ging nach draußen, auf die Straße, ohne Jacke, Schal und Mütze. Zu den Jalousien, weiße Schneestreifen auf den leicht gebogenen Lamellen, Ebba wischte sie ab, die hellgraue Beschichtung löste sich, die Kanten standen ausgefranst hoch. Ebba versuchte die Stelle zu finden, wo die Jalousie nicht richtig schloss, suchte die Lichtvierecke und fand sie nicht.
Sie holte ihren Schal, Jacke, Mütze. Wenn sie bis übermorgen wieder da waren, war alles in Ordnung, dennoch ging sie in Richtung Park, die Flocken waren grau im Laternenlicht. Ebba blieb auf dem beleuchteten Hauptweg, sah erst kurz beim umgestürzten Baumstamm nach, doch da war niemand, in hellen Linien zeichnete der Schnee die Kuhlen und Linien der Rinde nach.
An der ersten Wegkreuzung stand einer, sie sah ihm beim Näherkommen ins Gesicht.
»Gras«, fragte er sofort.
Sie schüttelte den Kopf.
»Der Ägypter«, fragte sie.
Er antwortete nicht, sagte nur erneut »Gras?«.
»The Egypt?«
»Kenne ich nicht«, sagte er, »wie viel willst du?«
»Die, die immer beim Baum standen, dem umgestürzten«, Ebba zeigte hinter sich, »einer von ihnen hat immer an der Rinde rumgeritzt, Punkte und Dreiecke.«
»Wie viel«, fragte er.
Sie war weitergegangen. Bis zur nächsten Kreuzung, traute sich nicht, den Hauptweg zu verlassen.
Als Ebba zurückkam, brannte noch immer kein Licht, sie klopfte dennoch. Stille. Stieg die Treppe hinauf, hatte keine Lust, in ihre Wohnung zu gehen, ans Fenster, den Bürgersteig bewachen. Sie klingelte an der Tür der Nachbarwohnung.
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