»Wie nett«, sagte Frau Streml, als sie öffnete, »Sie sind Ursula, nicht wahr?«
Ebba nickte, wollte nur wissen, wie es ihm ging, die alte Frau trat einen Schritt zur Seite.
»Er hat sich schon Sorgen gemacht«, sagte sie und schloss die Tür hinter Ebba.
»Wer«, fragte sie, festgetretener Schnee gemischt mit Streusand löste sich in Placken von ihren Schuhen, fiel auf den Läufer, würde Flecken hinterlassen. »Wer hat sich Sorgen gemacht?«
»Der Kleine«, antwortete Frau Streml, als sei es selbstverständlich.
»Ihr Enkel«, fragte Ebba, die Alte musste ihm erzählt haben, dass sie sie besuchte.
»Er dachte, Sie seien verschwunden«, Frau Streml nahm einen Bügel von der Garderobe, streckte den Arm aus, wartete auf ihre Jacke.
»Wieso verschwunden?« Ebba öffnete den Reißverschluss, stopfte Schal und Mütze in den Ärmel, ehe sie sie weiterreichte.
»Ich habe ihm auch gesagt, Sie sind wahrscheinlich tauschen«, die alte Frau hängte den Bügel auf, »ich brüh uns einen Frischen«, und ging in die Küche.
Ebba lehnte sich an die Arbeitsplatte, dort lag eine Tüte Gummibärchen, sie hätte gern ihre Hand reingesteckt, sie mit reichlich weicher Masse in der Faust hervorgezogen.
»Kinder vermissen immer ihre Mutter, meine Liebe«, sagte Frau Streml.
*
Sie kamen zu spät, die Älteren drängten sich um die Konsolen. Die Verkäufer standen im Barbie-Gang, alle drei, ihre Köpfe nah beieinander, sie sprachen leise, sahen immer wieder zu den Älteren und schnell wieder weg, als hätten sie Angst.
»Scheiße«, sagte Ümit und ging zurück zur Rolltreppe. »Zum Alex«, fragte er, als sie wieder vor Karstadt standen.
Lucas wandte sich um, sah die Karlsstraße entlang, er konnte eine Linie ziehen, blau war sie, blau und dick, sie begann an seiner Nase, führte den Hügel hinauf, blau und dick. Auf Höhe des U-Bahnhofs wickelte sie sich halb um den Ampelmast, als sie rechts abbog, die Straße hinab bis zu den Bäumen, und wieder links, durch die geöffnete Haustür und die Treppe hinauf bis zum ersten Stock, bis zur Klinke.
Bis zum Alex waren es sechs Stationen mit der U-Bahn, das Seil würde länger werden, ein Gummiband, das sich dehnte, immer schmaler in der Mitte. Tief unten und verschlungen im Dunkel, er würde nicht wissen, wo genau er sich befand, das Blau immer dünner, bis es schließlich riss. Lucas dachte an den Außenposten, hatte Angst, dass Decken, Sofa, Wohnzimmer, Küche, Flur, verschwinden würden, wenn er sich zu weit entfernte, die Wolken an der Höhlendecke, siebzehn waren es, er hatte sie vor dem Einschlafen gezählt. Dass die Wände, Treppen, das Haus verschwinden würden, wenn er zu weit weg war. Als wenn die Nachbarhäuser zusammenrücken könnten, er sah sie vor sich, wie im Comic, die Häuser hatten Gesichter. Zwei Dachfenster als Augen, lange Nasen, Balkonwangen, einen Haustürmund. Sie atmeten tief ein, zogen die Stuckaugenbrauen nach oben, bliesen sich auf, Schweißtropfen vor Anstrengung auf den Dächern. Drückten so lange gegen das Haus in ihrer Mitte, sein Haus, schmal und grau und mit einem Weingesicht, bis es verschwand, in zwei kleinen grauen Wölkchen verpuffte.
»Ich hab kein Ticket«, sagte er, »lass uns zum Spielie.«
Ümit blieb stehen, »ich will zocken.«
»Wir können zum Spielie und später noch mal zu Karstadt, die hauen bald ab.«
»Sonst fährst du auch immer schwarz.«
Ich hab ’ne Xbox, könnte er sagen. – Quatsch, würde Ümit antworten. – Doch. – Wo denn? – Zu Hause. – Zeig. – Meine Mutter erlaubt mir das, könnte er sagen, hatte sich oft vorgestellt, wie Ümit reagieren würde, wenn er den Außenposten sah. Ümit durfte keine Höhlen im Wohnzimmer bauen. Bettdecke und Kopfkissen lagen auf dem Sofa, aus Spaß könnte er sagen, hab ich dort geschlafen. Dass sie Spätschicht hatte. Extraschichten, falls Ümit in die Küche ging, um sich was zu trinken zu holen, zu den Geschirrstapeln, schief waren sie, die unteren Teller miteinander verklebt. Den Gläsertürmen, trübe Wasserreste in den einzelnen Stockwerken. Ümit würde denken, sie hätte nicht aufgeräumt, sie Schlampe nennen. Du kannst nicht mit zu mir, müsste er sagen, meine Mutter hat Spätschicht. – Mir doch egal. – Sie schläft. – Die kann nachts schlafen, würde Ümit sagen. – Dann arbeitet sie. – Der Backshop hat nachts gar nicht auf, würde Ümit sagen, du hast gar keine Xbox. – Nachts machen sie ihn sauber. – Du lügst, du hast gar keine Xbox.
Er könnte sagen, die Waschmaschine sei kaputt, falls Ümit aufs Klo musste, und die Wäsche in der Dusche sah. Ümit war ganz nah gekommen, letzte Woche in der Mathestunde, hatte hörbar Luft eingesogen, neben seinem Ohr, seinem Hals. »Hau ab«, Lucas hatte nach ihm gestoßen. »Du stinkst«, hatte Ümit geantwortet.
Er könnte Ümit sagen, er solle warten, vor ihm hochlaufen und die Wäsche aus der Dusche ins Schlafzimmer bringen.
»Ey«, Ümit wedelte mit der Hand vor Lucas’ Gesicht, ein Bus hielt neben ihnen, die Türen öffneten sich. Er konnte Ümits Finger riechen, fühlte den Luftzug an der Nase.
»Spinnst du«, Lucas zog den Kopf weg, schlug nach der Hand.
»Hör auf, vor dich hin zu glotzen. Zum Alex?«
»Nein.«
»Stell dich nicht so an«, sagte Ümit und drehte sich um und ging ein paar Schritte, »mir doch egal, ob du mitkommst.«
Einer der aussteigenden Fahrgäste stieß mit ihm zusammen, »Arschloch«, sagte der Typ.
Ümit blieb wieder stehen. »Jetzt komm.«
Meine Mutter ist nicht da. – Ruf sie an. – Geht nicht. – Ruf sie bei der Arbeit an, wenn ihr Handy nicht funktioniert. – Sie ist nicht bei der Arbeit. Sie ist nicht da. – Seit wann? – Schon länger. – Glaubst du, sie ist tot? – Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Lucas schüttelte den Kopf.
»Was ist?« Ümit berührte seinen Arm.
Sie könnte tot sein.
»Warum schüttelst du den Kopf?«
Ich frag meine Mutter, ob du bei uns wohnen kannst, würde Ümit sagen. Die Xbox nehmen wir mit. Das wird voll cool. Du schläfst in meinem Zimmer, und nachts schalten wir den Ton aus, dann merken sie es nicht.
»Machst du nicht«, Lucas schrie, stand vor Karstadt und schrie, »machst du nicht.«
»Was?«
»Es deiner Mutter sagen.«
Lucas drehte sich um und rannte die Karlsstraße entlang, auf den Hügel zu, die blaue Linie wickelte sich auf, wie das Staubsaugerkabel, wenn er den Steckerknopf drückte.
»Warte«, hörte er Ümit rufen, »jetzt halt an.«
Lucas beschleunigte, rasend schnell und ohne sich zu verheddern wickelte sich die blaue Linie auf. Wenn er so weiterlief, würde er nie den Hügel raufkommen ohne anzuhalten, Spucke sammelte sich in seinem Mund, er bekam Seitenstechen. Nicht umdrehen, Ümit war schnell, rief erneut »halt an«, nicht umdrehen, er wird aufgeben, irgendwo am Hügel wird er aufgeben und zum Alex fahren.
Lucas berührte die Klinke mit der Hand, hockte sich hin, auf allen vieren in den Hausflur, Spucke lief aus seinem Mund, tropfte auf den Boden, runde glänzende Flecken. Sein Atem war laut, bis zum U-Bahnhof hatte er Ümit gehört, hinter sich, nicht umdrehen hatte er gedacht, war abgebogen, den Außenposten vor Augen. Und jetzt kniete er im Hausflur und wollte nicht rein.
Er schloss die Tür auf, die Lampe im Wohnzimmer brannte, ihre Jacke hing nicht am Haken im Flur, ihre Schuhe standen nicht darunter auf den Dielen. »Hallo«, rief er sicherheitshalber, die Badezimmertür stand offen, das Licht war aus. Als das Luftholen nicht mehr wehtat, schloss er wieder ab und ging die Treppe hoch in den Zweiten.
Frau Streml war zu Hause, streckte den Arm aus und nahm seine Hand, sobald sie die Tür geöffnet hatte, das tat sie sonst nicht.
»Komm«, sie zog Lucas in den Flur, »ich habe eine Überraschung für dich.« Sie lief vor ihm her, zum Wohnzimmer. »Sieh mal, wen ich gefunden habe«, sagte sie und stieß die Tür auf, der Tisch war gedeckt, wie immer, am Tisch saß die dicke Blonde, die auch im Zweiten wohnte, mit einer Tasse in der Hand. Frau Streml machte eine Handbewegung in ihre Richtung, »Ursula«, und sah Lucas an, als erwarte sie, er würde sich freuen. Es war sehr still.
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