Nicolai hängte das Sieb in die Spüle, stellte zwei Teller, Gabeln, Löffel auf den Küchentisch, keine Gläser, er war nicht sicher, was sie trinken wollte. Vorsorglich schaltete er das Radio ein, »es ist so still«, sagte Camille sonst. War sie wach, hörte sie unentwegt Musik. Er fuhr den Rechner hoch, setzte sich an den Schreibtisch, öffnete irgendeine alte Datei, es sollte aussehen, als habe er gearbeitet.
Er hatte erwartet, dass sie anrufen und, wenn er nicht ranginge, in einem Schlafsack auf seine Türschwelle ziehen würde.
»Electrelane spielt heute Abend im Klangbad«, hatte er auf dem Weg von der U-Bahn zu ihrer Wohnung versuchsweise gesagt. Camille hatte genickt, er war nicht sicher gewesen, was das bedeutete.
»Ich muss duschen«, sagte sie, sobald sie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Er hatte nicht gefragt, ob er mitkommen könne, war in die Küche gegangen, Kaffee kochen.
Bis dahin ging es auch noch.
Auf dem Tisch hatte ein Stapel Abzüge gelegen, Nicolai hatte ihn zu sich herangezogen, rote Deltas, Gewebebrocken erwartet. Hatte angefangen zu blättern, den ganzen Stapel durch, eines nach dem anderen, weißes Porzellan, Urinsteinsandbänke, kein Blut. Es hatte eine Weile gedauert, bis er verstand.
Ich zahle die Hälfte schrieb er auf die Rückseite eines Kassenbons, etwas Besseres hatte er nicht gefunden, und legte ihn auf die Fotos.
Der Take war unbrauchbar, noch mal: Camille unter der Dusche, ihre Hand in der Totalen, wie sie eine Shampooflasche nahm, match cut, seine Hand, die nach der Cafetera griff, sie vom Herd nahm, Blende, beide beim Konzert, er dicht hinter ihr, ein Arm um sie gelegt, der andere in die Luft gestreckt, seine Hand neben ihrer, die Zeigefinger ausgestreckt, im Takt der Musik, fade to black, Musik drunter, No, you Girls never know, ein Coca-Cola-Spot.
Und wenn nicht, und wenn sie es nicht wegmachen lässt, der Gedanke war ihm erst gestern Nacht gekommen. Wir müssen reden , er hatte ihr eine Textnachricht geschrieben, morgen um acht bei mir .
Die Nudeln waren al dente, er goss sie ab, hängte das Sieb wieder in den Topf, legte den Deckel auf, damit sie nicht austrockneten, nahm die Soße von der Herdplatte.
Nicolai zählte die Freizeichen, fünf waren es, fragte »wo bist du«, sobald sie abnahm.
»Zu Hause.«
Er zählte die Buchstaben von Arrabbiata auf dem Etikett, um nicht zu fragen, warum, drehte den Deckel auf das leere Glas und stellte es sehr sorgfältig neben den Küchenmülleimer.
»Und nun?«, fragte er.
»Nichts.«
»Wann machen sie es weg?«
»Bald.« Camille legte auf.
Du wartest, bis du sicher bist, dass Lucas nicht eilig zurückkommt, seinen Sportbeutel holen oder den Tuschkasten. Faltest die Decke zusammen, Saum auf Saum.
Hast gestern, als er weg war, den Abwasch gemacht, gesaugt, die Waschmaschine angestellt. Hast überlegt, ob du einkaufen sollst, den Kühlschrank vollmachen. Und wenn die Sachen schlecht werden, hast du gedacht, hast eh nicht rausgehen mögen. Brot war noch da, Aufschnitt und Joghurt. Das Abtropfgitter hast du in der Nacht leer geräumt, gewartet, bis du sicher warst, er schläft, achtgegeben, dass das Geschirr nicht aneinanderstieß.
Die Frosties-Packung steht auf dem Küchentisch, schiebst die Hand hinein, isst erst die, die zwischen den Fingern hervorsehen, sammelst den Rest mit den Lippen ab. Deine Handfläche schmeckt metallisch, weißt nicht, wann du sie das letzte Mal gewaschen hast. Den mit Speichel verflüssigten Zucker wischst du an der Hose ab, die Cornflakes kleben auf deiner Zunge, am Gaumen, lässt Wasser in ein Glas laufen, spülst den Mund aus.
Stellst das Glas mit der Öffnung nach unten auf die Plastikrippen, gehst ins Wohnzimmer, legst dich flach auf den Boden. Rutscht auf dem Bauch unters Sofa, hast die Tasche mit dem Fuß dorthingeschoben. Hast dich in verschiedene Ecken des Zimmers gekniet, den Oberkörper aufgerichtet, bis du meintest, so groß wie Lucas zu sein, hast überprüft, ob sie zu sehen ist. Schaffst es, die Zehen unter den Henkel zu schieben, ziehst sie hervor. Obenauf liegt dein Anzug, zweihundert Euro wollte Hanne für ihn haben, darunter die Maske, Stiefel, deine Bürste mit den Haargummis, der Fettstift für die Reißverschlüsse, Feuchtigkeit macht das Metall der Zähne rau. In der Seitentasche weiße Umschläge.
Holst zwei Pullover, ein paar Sockenballen, Unterwäsche, Jeans. Deine Zahnbürste aus dem Bad, umwickelst die Borsten mit Klopapier, eine Handvoll Tampons, Creme, die Zahnpastatube lässt du auf dem Waschbeckenrand. Sammelst alles auf dem Sofa. Lucas’ Tür steht offen, ziehst sie nicht zu, betrachtest die ordentliche Reihe Legos auf der Fensterbank, zu kleinen Fahrzeugen zusammengebaut, viele nur halb fertig, die meisten haben Flügel. Nimmst eins in die Hand, könntest es einpacken, ein gelber Stein fällt ab, versuchst, ihn wieder anzubauen, durch den Druck löst sich der nächste. Tust es wieder zu den anderen, siehst dich um, willst nichts nehmen, was er gernhat, willst nicht, dass er traurig wird.
Verstaust die Sachen in der Tasche. Anzug, Stiefel, Maske schiebst du wieder unter das Sofa, matte Lichtreflexe auf dem Latex, einerlei.
Öffnest die Umschläge, die meisten sind zugeklebt, teilst die Scheine auf, als würdest du Karten geben, legst sie abwechselnd auf einen von zwei Haufen. Ein Fünfziger bleibt übrig, stehst eine Weile da, hältst ihn in der Hand, schließlich tust du ihn auf Lucas’ Stapel. Nimmst den anderen, steckst ein paar Scheine in jede Hosentasche, in dein Portemonnaie. Knüllst die leeren Umschläge zusammen, wirfst sie in den Eimer. Den Schlüsselbund legst du zu den Geldscheinen auf den Küchentisch.
An der Tür bemerkst du das Gewicht in deiner Jackentasche, das Handy, drückst auf die Tasten, das Display bleibt dunkel, Akku alle. Hattest es auf lautlos gestellt, als du nicht zur Schicht gegangen bist, die Backshop-Nummer, hatte ständig stumm geleuchtet, siebzehn verpasste Anrufe, als du später nachgesehen hast. Gehst zurück, legst es neben den Schlüssel, hast eh kein Guthaben mehr.
***
Das Rührgerät war nicht in dem Schrank unter der Arbeitsplatte, Elsa stellte die Zitronenpresse wieder zurück, richtete sich auf. Sie verschwanden, die Dinge. Der Kehrbesen, ihr Bademantel, Fön, Bügeleisen, Sparschäler. Manche blieben unauffindbar, andere tauchten wieder auf, die Fernbedienung im Kühlschrank, neben der Packung mit dem Schnittkäse. Die Butterdose auf dem Telefontisch, abends lag sie mittig und sehr ordentlich auf dem Adressbuch. Das Nähkästchen in der Wäschetruhe, halb in ein Laken gewickelt. Als würde ihr jemand einen Streich spielen, in die Wohnung kommen, heimlich und leise, ihre Sachen verstecken.
Sie hatte Sahne aufschlagen wollen, der Junge kam, sie hatte Mohnstrudel aus der Bäckerei mitgebracht. Es geht auch ohne, dachte Elsa und ging ins Wohnzimmer. Der Tisch war gedeckt, sie hatte ein neues Teelicht ins Stövchen gestellt, hatte es bereits angezündet, es leuchtete warm im Dämmerlicht. Sie stellte sich ans Fenster, Samenkapseln hingen rund und stachelig an den nackten Ästen. Sie konnte die ganze Promenade überblicken, die Bänke waren leer, die Sandwege. Erika hatte ihren Stock in der Rechten gehalten, Elsa hatte die andere Seite gestützt, langsam waren sie gegangen, Erika hatte die Schritte gezählt, »zehn noch«, sagte sie, und wenn sie die beisammenhatte, wieder »zehn noch«. Erika hatte die Lippen zusammengepresst, hoch geatmet, wenn sie das offene Bein belastete. Hatte sich von Zeit zu Zeit auf eine der Banklehnen gestützt, sich nicht hinsetzen wollen, »du kriegst mich nicht wieder hoch« zu Elsa gesagt.
Als Elsa langsam unter den Platanen gegangen war, Erika an ihrer Seite eingehakt, hatten die Bänke noch nicht gestanden. Das Gras war höher, es hatte an ihren geschwollenen Knöcheln gekitzelt, die Platanen reichten kaum bis zum zweiten Stock. Es hatte gedauert, bis sie ihren Zustand bemerkte.
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