»Ich bin wieder in der Pflege«, öffnest das Butterpaket, vorsichtig, damit das Papier nicht reißt.
»Wo?« Er bleibt neben seinem Stuhl stehen, schiebt den Teller von sich weg.
»Schmerzpatienten«, du nimmst ein Brötchen, schneidest es auf, »wird besser bezahlt.«
»Wenn du zu viel verdienst, kriegen wir Ärger vom Amt.«
»Wir sind abgemeldet«, sagst du, hältst ihm die Brötchenhälften hin. Erfassung zu statistischen Zwecken hatte ganz oben auf dem Formular gestanden, weiter unten: Gründe für die Abmeldung und darunter: Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses am, Name des Arbeitgeber s und ausgeübte Funktion . Salon fatal und Schmerztier, du musstest grinsen. Sonstiges hast du angekreuzt, die drei freien Linien neben dem Kästchen angesehen, überlegt, schließlich heirat auf die oberste Linie geschrieben. Das Wort sah seltsam aus, nach einer Weile fiel dir auf, dass Heirat großgeschrieben wird. Mit dem Vater meines Kindes hast du auf einem Blatt Papier geübt, hast es vorgeschrieben, auf dem Formular sah es richtig aus.
»Ein Mann ist angefahren worden«, sagt Lucas plötzlich, »einer von den Schwarzen von unten. Er ist erst auf die Windschutzscheibe geschleudert und dann runter. Bei Karstadt, an der Ampel.«
»Du sollst nicht zu Karstadt.«.
»Der konnte dann nicht mehr richtig laufen, zwei andere haben ihn gestützt, so«, Lucas streckt einen Arm zur Seite, um dir zu zeigen, wie. »Der Fahrer ist ausgestiegen, hat immer ›Krankenwagen, Krankenwagen‹ gerufen. Aber die sind weiter.«
Das Paket stellst du nachts auf seinen Schreibtisch, rosa Luftballons auf dem Papier, Blau war aus, die Verkäuferin hat sich entschuldigt, während sie die Schleife band. Am nächsten Morgen liegt das Papier im Mülleimer, der Karton bleibt ungeöffnet, vier Tage lang, auf dem Tisch. Gehst nachsehen, wenn Lucas in der Schule ist. Am fünften ist er weg, findest ihn schließlich unter seinem Bett, er hat ihn hinten an die Wand geschoben. Der braune Klebebandstreifen ist auf einer Seite eingeschnitten, dort, wo die Papplaschen aneinanderstoßen, der Schlitz ist einige Zentimeter lang, als hätte er angefangen, den Karton zu öffnen, und sich dann dagegen entschieden.
Am Anfang hast du alles falsch gemacht. Bist wütend geworden, hast geschrien, gezittert, der Rand der Augenlöcher hat Tränen gestaut. Sie liefen über das Leder, hast sie erst wieder gefühlt, wenn sie salzig deinen Mund erreichten. Der Rest hat sich unter den Rändern gesammelt, auf den Wangenknochen verteilt. Ist ausgekühlt, wenn du geschrien, das Gesicht so stark verzogen hast, dass sich die Maske von der Haut löste. »Kalt und hart«, hat Hanne dir erklärt, »darfst gern laut werden, aber kontrolliert.«
Er ist dein Fester geworden. Er hat keinen Namen, du gibst ihm viele. Mochtest ihn erst nicht anfassen mit der bloßen Hand, hast dich geschüttelt, sobald du die feinen blonden Haare auf der Handfläche gespürt hast, wenn du sie versuchsweise den Cellulitedellen, den roten, entzündeten Punkten nähertest. »Mach was draus«, hat Hanne gesagt, als du es ihr erzählt hast, »’nen Fetisch oder ’ne Belohnung oder so. Nimm Handschuhe«, hat sie hinzugesetzt.
Auf dem Weg nach draußen holst du an der Rezeption deinen Umschlag ab, weiß und ohne Sichtfenster, steckst ihn ungeöffnet in die Jackentasche, gehst vorbei am Messingschild einer Anwaltskanzlei, dem Milchglas einer Hautarztpraxis, fühlst dich erleichtert, wie als Kind nach dem Impfen.
Er tut dir leid. Schiebst deine Handschuhhand in die Haare über seiner Stirn, sie stehen in vier braunen Strichen zwischen deinen Fingern hervor, ballst die Finger zusammen und ziehst. Willst die Haare zurückstreichen, sie gehören nach hinten, in langen Strähnen über die Stelle an seinem Hinterkopf gekämmt, groß wie eine Euro-Münze, nackter als die fahlen Arschbacken, in die sich seine Fersen pressen. Musst nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, die kahle Stelle, könntest deine Gummifinger hineinbohren, ihn hässlich nennen. Aber du willst die Haare zurückstreichen, die Haut verdecken.
Willst ihn wiegen. Ihn vermessen, eine Liste anlegen, den dreieckigen Narbenwulst neben seinem rechten Hüftknochen vermerken, die grauen Haare auf seiner Brust.
Wenn die Zeit um ist, sein Körper erschöpft, gerötet, klein gemacht, so dass er dir hockend nicht einmal zu den Knien reicht, gehst du. Willst seinen Kopf an deine Brust, dein Maskenkinn auf seine Haare legen, die Arme um seinen Oberkörper schlingen, sachte mit ihm vor- und zurückschaukeln. Drehst dich um, schließt die Tür hinter dir, beim ersten Mal hast du gezögert, überlegt, ob du »Tschüs« sagen sollst. Kommst ohne Gruß, gehst ohne Abschied, verschwindest in den Umkleideraum, in deine Jeans, Pullover, Turnschuhe. Bist das schwarzglänzende Wesen, das in fensterlos gedämmter Wärme haust, so gut von der Welt abgeschlossen, dass es nicht zur Welt gehört. Das Schmerztier, das nur in seinen Phantasien lebt und manchmal in der Kammer. Du bist zufrieden.
Gehst am Backshop vorbei, wechselst nicht die Straßenseite, Luftschlangen hängen im Schaufenster. Sie haben einen Brief geschickt, fristlos gekündigt. Reyhan sitzt an der Kasse, daneben steht ein Tisch mit Pfannkuchen, nach Füllungen sortiert. Extraschichten. Es ist Fasching.
Vor der Wohnungstür stand ein Mann. Erst sah Theresa nur ein graues Flanellhosenbein zwischen Geländer und Treppe. Friedrich, dachte sie, Unsinn, dachte sie, Friedrich wanderte in Småland. Er hatte sein Büro geräumt, zum Ausstand geladen. Ein Magen-Darm-Infekt, hatte sie gesagt. Sie ging weiter die Stufen hinauf, langsamer, die Tasche mit dem Einkauf hielt sie beidhändig vor den Bauch.
Der Mann stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, hatte ein Knie angewinkelt. Auf seinem Oberschenkel lag ein Stapel Zettel, er füllte ein Formular aus, schaute auf seine Armbanduhr, schien die Zeit zu notieren. Ein Handwerker, dachte sie, versuchte sich an den Termin zu erinnern, den sie vergessen hatte. Er trug ein Oberhemd mit Pullunder und Krawatte, keinen Blaumann, kein Sweat- oder T-Shirt mit aufgedrucktem Firmenlogo. Er blickte auf, als sie die Tasche mit dem Einkauf auf der obersten Stufe abstellte.
»Guten Tag, sind Sie Frau Jansen?«
Theresa nickte, öffnete den Druckknopf ihrer Handtasche, der Schlüssel war im Seitenfach.
»Liege ich richtig mit der Annahme, dass Sie die Ehefrau von Herrn Claas Jansen sind?«
Wieder nickte sie, sah Claas auf seinem Fahrrad vor sich, die Polizei, dachte sie, und der Helm hilft nichts, wenn das Auto von der Seite kommt. Sie zog die Hand wieder aus der Tasche, im Film sind sie immer zu zweit, wenn sie solche Nachrichten überbringen, dachte sie.
»Mein Name ist Ebers«, der Mann neigte leicht den Kopf nach vorn, »ich bin vom Amtsgericht Charlottenburg bestellter Gerichtsvollzieher«, er machte eine kurze Pause. Theresa nahm den Schlüssel in die Hand.
»Die Vollstreckungsankündigung ist Ihnen am«, er sah auf das Formular, »am 06.10.2008 erfolgreich zugestellt worden.«
Der gelbe Umschlag.
»Es geht um die Beschlagnahme beweglicher Vermögensgegenstände, die wird vom Gläubiger neben der Zwangsversteigerung betrieben, da Ihr Gatte auch persönlich haftet.«
Sie hatte nie gefragt. Es gab Anzeichen, ja. Claas’ Volvo war liegen geblieben, Kolbenfresser, »da dreht sich nichts mehr«, hatte der Mann vom ADAC gesagt, nach zweihunderttausend Kilometern müsse man auch loslassen können. Eine Zeit lang hatten Kataloge von Autoherstellern, halbe Bildbände aus dickem, teurem Papier auf seinem Nachtschrank, dem Couchtisch, neben der Toilette gelegen. Claas hatte von Hubraum und Einparkhilfen gesprochen, so getan, als könne er sich nicht entscheiden, irgendwann hatte sie die Kataloge im Altpapier entsorgt. Er fuhr mit dem Rad zur Arbeit, manchmal nahm er die U-Bahn.
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