»Habib, Habib«, schrie der Mann, schmal wie ein Kind, es klang wie ein Vogelruf. »Habib, Habib.«
So flehentlich, dass Claas die Treppe wieder hochging, rückwärts, zurück zum Fenster auf den Absatz zwischen erstem und zweitem Stock. Die Hand in der Luft öffnete sich, Claas konnte die hellrosa Handfläche sehen, ehe sie gegen das Holz schlug. Die Tür ging so plötzlich auf, dass sie beide erschraken.
»What’s wrong with you«, die Stimme tief, sehr ruhig, er war größer als der andere, breitschultrig, Musik drang aus dem Flur dahinter. Der Schmale deutete die Treppe hinauf.
»Jansen«, wiederholte Claas und stieg die Stufen hinab, »könnte ich Herrn Schmidtke …«
»Herr Schmidtke ist nicht da. Ich bin zuständig, Sie können mit mir sprechen.« Der Lange lehnte sich gegen den Türrahmen, der Schmale hob die Tüten auf und ging rasch hinein.
Claas blieb auf der letzten Stufe stehen.
»Wegen der Heizkostenabrechnung, Sie haben nicht gezahlt.«
»Wir haben keine.«
»Was?«
»Heizung.«
Die Dreistigkeit ließ Claas auflachen, »das geht gar nicht«, sagte er.
Der Lange sah hinter sich, schien nachzudenken, schließlich winkte er in den Flur, Claas konnte hören, dass eine Tür geschlossen wurde. Der Lange trat zur Seite, gab den Weg frei, hinter ihm standen zwei weitere Männer.
»Kommen Sie rein«, sagte er, »sehen Sie selbst.«
Still, auf einmal war es still, Claas konnte seine Schritte auf den Dielen hören, jemand hatte die Musik ausgemacht. Zwei Fahrräder lehnten an der Wand, neu und teuer.
»Draußen«, sagte der Lange, »wird alles geklaut.«
Direkt hinter der Tür kam links das Bad, schmal wie ein Flur, ein kleines Waschbecken hing an der Wand, am Ende stand die Toilette, Claas konnte Wasser laufen hören, ein Rinnsal, unablässig, der Spülkasten war kaputt. Die nächste Tür zu seiner Linken war geschlossen, die beiden anderen Männer standen davor, Hände in den Hosentaschen, Ellbogen breit, irgendein elektrisches Gerät vibrierte leise dahinter, die Küche vermutete er.
Claas wandte sich nach rechts, da stand eine Tür offen, in dem Raum war Dämmerlicht, die Jalousien heruntergelassen, zwei helle Lichtpunkte an den Enden jeder Lamelle, wo die Schnüre durchliefen. In der Mitte saßen zwei Lamellen nicht richtig aufeinander, durch eine ganze Reihe winziger heller Vierecke, sie sahen aus wie der durchbrochene Mittelstreifen einer Straße, fielen Lichtstäbe, in denen Staubpartikel kreisten.
Der Lange griff an ihm vorbei, Claas wich zurück, schämte sich sogleich, drückte die Knie durch, der Lange griff an ihm vorbei und betätigte den Lichtschalter.
Auf dem Fußboden lagen Isomatten, sieben zählte Claas im ersten Zimmer, drei pink, zwei lila, zwei schwarz, wie seine, ebenso auf dem Boden, er musste endlich eine Matratze kaufen, sie brauchten eh ein neues Ersatzgästebett, das aufblasbare hatte Ebba verloren. In der Mitte war ein Gang, zwischen den Matten schmale Streifen Dielenboden, ochsenblutrot, Cola-Dosen standen dort, Zigarettenkippen und Asche um die Trinköffnungen verteilt, ein Handy sah er, eine angebrochene Packung Kekse, Socken. Auf den Matten lagen braunkarierte Wolldecken, die Männer schienen mit den Köpfen zur Wand zu schlafen, dort waren zumindest die Kissen. Unter den beiden Fenstern an der Stirnseite des Zimmers, dort, wo die Heizkörper sein sollten, waren zwei faustgroße Löcher in der Wand, rechts und links standen Kupferrohrenden hervor.
»Siehst du?«, der Lange war an der Tür stehen geblieben.
»Und im Winter?«
Der Lange zuckte die Achseln, drehte sich um und ging in den Flur zurück, Claas folgte ihm, jemand hatte die Wohnungstür geschlossen. Die meisten Männer standen im zweiten Zimmer, alle in einer Ecke, Gesicht zur Tür, Rücken zur Wand, als hätten sie versucht, sich möglichst weit vom Wohnungseingang zu entfernen. Einer trug die Haare in schwarzen Zöpfen eng an den Schädel geflochten, ein anderer hatte ein akkurates Muster aus kleinen viereckigen Narben symmetrisch auf beiden Gesichtshälften verteilt. Die Männer sahen Claas nicht an, blickten zu Boden, verlegen, wie ihm schien, sie schwiegen. Auch hier lagen Isomatten auf den Dielen. Einer der Männer kniete sich hin, begann hastig ein paar herumliegende Kleidungsstücke einzusammeln. Er legte sie zusammen, legte Hosenbein auf Hosenbein, strich den Stoff glatt, bis ein anderer ihn anstieß.
»Siehst du«, der Lange deutete in den Raum, »nichts.«
***
Sie war nicht überrascht, nicht verstimmt, Grübchenstafette, sobald sie die Tür geöffnet hatte.
»Geh vor«, sagte sie, »ich habe gedeckt.«
Im Flur, auf Höhe der Schlafzimmertür, roch es streng, Nicolai hielt den Atem an. Auf der Tischdecke lagen lediglich ein paar Garnrollen, drei weiße, zwei hellblaue und die Fernbedienung. Eine der gehäkelten Rosetten war unregelmäßig braun verfärbt, Tee oder Kaffee, er berührte sie mit dem Finger. Die Tülle der Teekanne tropfte nach, wenn man nicht achtgab, »macht nichts«, sagte sie dann. Bei seinem letzten Besuch hatte er aufgepasst, die herablaufenden Tropfen mit der Serviette abgewischt, er konnte sich nicht an die Flecken erinnern, sah zum Fenster, Camilles Schicht begann in zehn Minuten.
Nicolai ging zurück in die Küche, Elsa Streml stand neben der Spüle, eine Hand am Beckenrand aufgestützt, die Schultern hochgezogen.
»Richtig«, sagte sie, als sie ihn sah.
Der Gasherd war an, auf der Flamme stand der Kessel, sie nahm ihn in die Hand, Nicolai hörte das Wasser darin schwappen. Sie nickte zufrieden, ging in den Flur, vor der Schlafzimmertür nahm sie seinen Arm.
»Versteckt«, sagte Elsa Streml, legte einen Finger auf die schmalen Lippen, »die Trockenen oben, die fast Trockenen in der Mitte, die Frischen unten«, und blinzelte ihm zu.
Im Wohnzimmer begann sie das Geschirr, Teller für Teller, Tasse für Tasse, aus dem Schrank zu nehmen und auf den Tisch zu stellen.
Nicolai drehte ihr den Rücken zu, bemerkte Camille erst, als sie sich bereits über ihr Fahrrad beugte. Wie er vermutet hatte, nahm sie den Laternenpfahl vor dem Café, um es anzuschließen. Er hatte nicht gesehen, aus welcher Richtung sie gekommen war, das Vorderrad zeigte in Richtung Schule, als wäre sie von zu Hause gekommen, aber sie konnte das Fahrrad auch umgedreht haben.
Ist es weg, wollte er fragen. Mehr nicht.
Es pfiff, laut in der Küche, der Ton wurde immer höher. Nicolai drehte sich um, die Teller standen bereits an ihrem Platz, Tassen und Untertassen hatte sie verteilt, stützte sich mit einer Hand auf die Tischplatte, als würde sie das Pfeifen nicht hören.
»Das Wasser kocht«, sagte er.
Sie nickte und rührte sich nicht.
»Erika ist bös mit mir.«
Nicolai ging in die Küche, drehte die Gasflamme aus, der Tee war in der kleinen schwarzen Dose, er nahm sie vom Regal, fand die Kanne nicht.
»Verschwunden«, sagte sie, als er ins Wohnzimmer zurückkam.
»Was ist verschwunden«, fragte Nicolai, bereute es sogleich, im Zweifel ging es um Erika.
»Das Besteck.«
»Oberste Schublade«, sagte er, sie sah sich im Zimmer um, Nicolai deutete auf das Sideboard.
Er stellte sich ans Fenster, jedes Mal, wenn er sich umwandte, lag ein anderes Besteckteil neben ihr auf der Tischdecke, Suppenlöffel, große Gabel, Fischmesser, Kuchengabel.
Seine Jacke hatte er anbehalten, nahm Schal und Mütze von der Sessellehne.
»Ich komme gleich wieder.«
Elsa Streml sah nicht auf, nahm bedächtig Kuchengabeln und Teelöffel aus der Schublade, legte sie auf die Decke, vier Gabeln und fünf Löffel lagen bereits dort.
»Das sind zu viele«, Nicolai setzte die Mütze auf, sie drehte sich um, Grübchenstafette, als sie ihn erblickte, sie schien sich zu freuen, ihn zu sehen. »Bis gleich.«
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