»Die Sache ist die, Wasja: Wenn der Präsident das Referendum durchkriegt und wir eine neue Verfassung bekommen, war’s das mit der Demokratie. Endgültig.«
Ich lehnte mich zurück, atmete mit einem leisen Knurren aus. »Ich denke, wir waren uns darüber einig, daß ich kein Demokrat bin.«
»Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß du kein Fan des Herrn Präsidenten bist. Das genügt mir zu wissen. Nein? Dann blöke, Wasja, blöke!«
Ich schwieg.
»Eine Verfassungsänderung wird dafür sorgen, daß alle Macht auf unbegrenzte Zeit bei ihm liegt. Er ernennt und entläßt den Premierminister, er beruft die Vorsitzenden des obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts, außerdem alle anderen Richter in Belarus. Das ist dann keine Gewaltenteilung mehr, sondern ungeteilte Gewalt.«
»Und was willst du dagegen tun? Mit ein paar Transparenten winken?«
»Hast du eine bessere Idee? Möchtest du lieber zuschauen?«
»Ach, das hat doch keinen Unterhaltungswert.«
Stanislau brach seine Zigarette in der Mitte durch. Ich glaubte, ein Zähneknirschen zu hören.
»Verlorene Generation nennt man uns. Wir haben uns verloren an Musiksender und Daily Soaps, an den Hypermarket im Außenbezirk und die Schnellfresse in der Innenstadt. Und du, du bist auch nur wie alle hier, Wasja, du suchst dein Heil in deinem ›Privatleben‹.«
Ich lachte, ließ mich in den Ohrensessel seiner Vermieterin zurückfallen, sah mich um. In einem Regal, das windschief über der Tür hing, saß Agata, Jadwihas alte Stoffpuppe, die mich ins Leben zurückgekitzelt hatte.
»Na klar, ausgerechnet mein ›Heil‹, Stas. Was weißt du schon von meinem Privatleben? Hauptsache, ihr Weltverbesserer und Heilssucher habt etwas gefunden, für das es sich zu leben und zu labern lohnt.«
»Die Lauen werden ausgespien, das weißt du doch, oder?« »Halleluja! Hoffentlich putzt sich dein Gott regelmäßig die Zähnchen.«
»Sprüche Salomoni 14,3: Im Munde des Toren ist eine Rute für seinen Rücken.«
»Unsinn, Stas, wer da schon alles grün und blau einherginge…!« Mein Blick fiel auf seine Hände. Vor Wochen hatte er begonnen, sich das Zehnfingerschreiben beizubringen (er hangelte sich von Buchstabe zu Buchstabe, die Tage vergingen zwischen A und D, zwischen Sch und Schtsch, »Wo bist du jetzt?« fragte ich in der Mensa, »U«, antwortete er etwas belämmert, »bin immer noch nicht zum N gekommen, sonst könnte ich endlich beginnen, Briefe zu schreiben«). Ich konnte sehen, wie er begann, meine Worte mit Zuckungen der Fingerglieder im Schreibmaschinensystem auf die Tischplatte zu tippen.
»Es gibt Menschen, die immer am Bestehenden festhalten, egal wie beschissen es ist.«
»Und?«
»Wasja: Den meisten Leuten hier ist überhaupt nicht klar, was das Referendum bewirken wird. Wie auch?! Die haben alle Zeit der Welt, um ihre Botschaft in den Äther zu blasen, und uns verbieten sie die Zeitungen, wir – «
»Wer ist ›wir‹?«
»Opposition nennt man das in einer Demokratie.«
»Nationalisten?«
»Auch. Ja.«
»Ach Stas, ich könnte kotzen, wenn ich das Wort nur höre.
Da steht dann plötzlich so ein Dreiklang mit Genozid und Faschismus im Raum. Ich weiß nicht einmal genau, was das eigentlich sein soll, wenn ich sage, daß ich Belarusse bin. Ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt einer bin.«
»Das geht nicht nur dir so. Oder kommt jetzt etwa wieder der Mist mit dem ungarischen Nomadenreiter?«
Abwehrend hob ich die Hände.
»Stas, warum bin ich trotz des Untergangs der Sowjetunion davon überzeugt, daß es immer nur dieselben Chargen sind, die versuchen, ihre Schäflein ins Trockene zu bringen? Es spielt überhaupt keine Rolle, wer an der Regierung ist. Nur wer dahintersteht und abwinkt oder mit dem Kopf nickt. Und das sind überall dieselben Seilschaften, nach jeder Wahl sind es dieselben. Bei uns, in Ungarn, in Deutschland, hier – «
»Gib uns wenigstens die Chance, es zu versuchen.«
»Die hattet ihr.«
»Und du warst gar nicht da.«
»Und ich war gar nicht da. Aber alle anderen.«
»Weil unser Herr Präsident versprochen hat, es regnen und die Sonne scheinen zu lassen. Die meisten dieser Sowjetmenschen haben überhaupt nicht verstanden, worum es eigentlich geht.«
»Those people who think they know everything are a great annoyance to those of us who do.«
»Churchill?«
»Budapester Klospruch. Eine Bar im American Quarter.« Stanislau trank von seinem fast erkalteten Tee. Er hielt die freie Hand unter die Tasse, um Tropfen aufzufangen und blickte drein wie ein Buddha auf Kartoffeldiät. Ich ertappte mich einmal mehr dabei, Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher zu fummeln und sie der Länge nach zu sortieren. Ich ließ es sein. Und suchte unser Gespräch zu beenden.
»Danke für den Tee«, ich hatte ihn nicht angerührt, er war kalt geworden, auf seiner Oberfläche schwammen Staubfäden, und war das da nicht ein Fetzchen Papier?, »ich weiß noch nicht, ob ich zu eurer Party kommen kann. Wann steigt sie denn?«
»Wenn alle so denken wie du: erst hinterher, auf dem Oktoberplatz.«
»Stas, Stas, vorher predigen, hinterher protestieren. Wenn er das Problem ist, dann quatscht doch nicht so lange drumherum, schießt ihn weg.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst? Nein, das ist nicht dein Ernst, du spielst nur den Wiedergänger deines Großvaters. Wann hast du eigentlich vor, dein eigenes Leben zu leben, Wasja? Die große Revolution ist vorbei. Sie ist tot. Revolutionen können sterben. Wie Häuser. Wie Städte. Tot ist sie. Aber wir, wir leben. Es ist leider nur eine beschissene, langweilige Arschkriecherzeit. Da ist kein Platz für große revolutionäre Ideen. Unsere Gegner haben dazugelernt, also müssen auch wir anders vorgehen.«
Stanislau holte tief Luft, dann setzte er hinterher:
»Falls du es immer noch nicht gemerkt hast: dein Großvater war ein ziemlich jämmerlicher Revoluzzer. So groß sind seine Fußstapfen gar nicht!«
»Du hast es nötig. Lieber mit dem Geist eines alten Revolutionärs rumlaufen als mit dem eines kleinen Mädchens.«
Ich sah zu Jadwihas Puppe hinüber, sie schien mir zuzunicken. Stanislau schluckte. Er trank. Schluckte. Dann sagte er sehr leise:
»Dein Großvater war ein Kadermann, Wasja. Mit allem Drumunddran. In den frühen Fünfzigern gab es ein paar Männer in unserem Städtchen, die verschwunden und nicht wieder aufgetaucht sind, nachdem er sie bei der Fünften Hauptverwaltung gemeldet hat.«
Ich sprang auf.
»Nie im Leben war Djeduschka ein KGB-Mann!«
»Nicht nach ’56, da hast du recht, Wasja.«
»Aber davor, was? Für jemanden wie ihn war der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts.«
»Die Denunziationen waren vielleicht auch eine Herzensangelegenheit. Er dachte, er würde das Richtige tun.«
Ich hatte zwei Türriegel geöffnet, die Klinke schon in der Hand.
»Wasja, ich habe monatelang in Moskau recherchiert. Der Name deines Großvaters taucht mehr als einmal auf. Es tut mir leid. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen.«
»Wahrlich, wahrlich, Stas, ich sage dir: ein Menschenfischer bist du nicht. Kein Wunder, daß ihr so wenig Erfolg habt, kein Wunder!«
Ich ließ die Tür offenstehen. Türenschlagen hätte mich nur erschreckt.
Auf dem Weg zurück kam ich am Präsidentenpalast vorbei. Vor den Absperrungen standen Frauen. Alte Frauen und junge Frauen. Sie hielten Fotovergrößerungen von Männern in der Hand, jungen Männern. Schwiegen. »Was ist mit meinem Sohn geschehen?« stand über ein Gesicht in roten Lettern geschrieben, »Wo ist mein Mann?« auf einem anderen. Ich dachte an eine Szene aus einem Musikvideo, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging: Jemand versuchte angestrengt, mit dem Radiergummi eine Notiz auszulöschen, aber je vehementer er das Papier traktierte, desto schärfer wurde das Geschriebene.
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