Martin von Arndt - Oktoberplatz

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Weißrussland im 21. Jahrhundert. Ein aufwühlendes Buch über die Liebe, über Träume, über Macht und Missbrauch. Weißrussland im Jahr 2004. Präsident Lukaschenka regiert das Land seit zehn Jahren mit harter Hand nach der Devise: »Mehr Ordnung anstelle von Demokratie.« Zeitungen werden verboten, oppositionelle Politiker verschwinden. Die Bevölkerung hat sich mit allem abgefunden, ertrinkt in einer Mischung aus Wodka und Fatalismus. Und Wasil, der Held des Romans, will seine Tante Alezja loswerden – und zwar für immer!
»Oktoberplatz« erzählt von der persönlichen und politischen Frustration, die den 30-jährigen Kulturjournalisten Wasil in Betrügereien, Inzest und Mord treibt.
Ein aufschlussreiches Buch über die letzte Diktatur Europas, über kapitalistische und sozialistische Verirrungen, über das Scheitern des Einzelnen am Kollektiv. Ein Coming-of-Age-Roman, der von den Leiden eines jungen Menschen erzählt, der in postkommunistischen Zeiten seinen Weg ins Leben sucht - und immer wieder gegen ein unverrückbares System anrennt.

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Martin von Arndt

OKTOBERPLATZ

oder

Meine großen dunklen Pferde

Roman

Sie kommen,
meine großen dunklen Pferde kommen!
Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe.
Die Pferde des Schlafs galoppieren,
galoppieren über das Land.

Thomas Wolfe: Tod, der stolze Bruder

Kali raptam adczujesz kamunalnyja pachi,
I żyćcio ciabie woźmie u piatlu.
Zrazumiejesz tady, szto try czarapachi
Paraniejszamu ciahnućziamlu.
Hej la-la-la-laj,
Ty nie czakaj, siurpryzau nia budzie.

N.R.M.: Try Czarapachi

Wenn du in der Kommunalka (Gemeinschaftswohnung) plötzlich die Ausdünstungen riechst
Und dich das Leben in den Schwitzkasten nimmt
Wirst du verstehen, daß nach wie vor
Drei Schildkröten diese Welt ziehen.
Warte nicht ab, es wird keine Überraschungen geben!

N.R.M.: Drei Schildkröten

Tümpel, so tief, daß auf ihrem Grund Höhlen sein könnten

Ich habe Draht gekauft. Draht zum Überbrücken der Sicherung. Und einen Pürierstab, dieselbe Marke, dasselbe Modell, das mein Tantchen dazu benutzt, um ihren Tag mit einem Bananen-Shake zu beginnen.

Weil die Metro voll war, wie immer um diese Zeit, ging ich in ein Schnellrestaurant an der Njamiha und stopfte mich mit Bliny voll, bis mir schlecht wurde, bis sich mein Magen umstülpte, wieder und wieder, bis er leer war, entspundet. Dann setzte ich mich zurück an meinen Tisch, den Schweiß noch auf der Stirn, und während um mich her die Idiotie einer Pubertierenden-Selbstfindung mit Klingeltönen und MTV Russia tobte, machte ich mich daran, den Pürierstab mit meinem Taschenmesser aufzuschrauben.

Es begann zu regnen, zu schneien, zu regnen. Ich ging zu Fuß bis zur Station Maladzjozhnaja, den Kragen meines Hemds hochgeschlagen, den Wintermantel trug ich unterm Arm, ein Paket unter vielen. Ich spürte, wie meine Brustwarzen unter dem Synthetikstoff prall wurden, gegen die Kälte rebellierten. Die letzten hundert Meter sprintete ich, harte lange Schritte auf den Ballen. In der Metro rieb sich meine klatschnasse Kleidung an den Businessjacken der mich Umdrängenden, die sich angewidert von mir wegzudrehen versuchten. Erfolglos.

Zuhause habe ich Kaffee gekocht, habe mich hingesetzt, bin wieder aufgestanden, habe mich hingesetzt, habe nicht von dem Kaffee getrunken. Der Sekundenzeiger der Uhr pulsierte vor meinem Auge, in meinen Augen.

Die leitenden Teile im Inneren des Pürierstabs so mit dem Einschalter zu verbinden, daß auf dem Knopf Strom fließt, ist ein Leichtes. Strom durch den Knopf durchzuleiten, ist ein Leichtes, man muß nur ein wenig mit dem Messer an seiner billigen Plastikabdeckung kratzen. Mein Tantchen ist Linkshänderin. Der Strom wird unmittelbar zu ihrem Herzen vorstoßen. Der Pürierstab liegt in der Faust. Die Faust ist fest um das Instrument geschlossen. Verkrampft.

Ich schütte die Kanne Kaffee aus. Der Sekundenzeiger der Uhr pulsiert.

Der Sicherungskasten von Tantchens Wohnung befindet sich im Bad. Während eines Stromausfalls hatte ich versucht, die vermeintlich defekte Sicherung zu wechseln. Mit der Taschenlampe im Mund habe ich – nackt, auf Zehenspitzen – vor dem Kasten gestanden und eine nach der anderen raus- und wieder reingeschraubt, während mein Tantchen von hinten durch das Delta griff, das meine Oberschenkel mit den Bodenfliesen bildeten, und mit fünf schwarzlackierten Fingernägeln meine Hoden streichelte. Bis sie nach einem Blick aus dem Fenster feixte, daß das ganze Viertel ohne Licht sei. Ich drehte mich zu ihr um, sie biß in das andere Ende der Lampe, zog sie mir aus dem Mund, wir haben den Sicherungskasten wieder zugeschlossen, und, statt auf Licht zu warten, zweimal Sex im Stehen gehabt. Zehnmal Schwarzlackiertes verkrallte sich in die Küchengardine. So habe ich ihr vor einem dreiviertel Jahr beim Umzug geholfen, beim Sicheinleben in ihre neue Stadt. Mjensk. Minsk.

Rechts von mir: mein Messer, meine Zange. Und zu meiner Linken: Draht, Draht zu meiner Linken. Wenn man ihn richtig anbringt, wird es nach Schludrigkeit aussehen, nach derselben Schludrigkeit, mit der wir jahrzehntelang unser Haus instand gehalten haben. Vielleicht auch nach der Faulheit eines Vormieters, der, um die kaputten Sicherungen nicht ständig wechseln zu müssen, sie einfach überbrückt hat.

Der Sekundenzeiger der Uhr.

Stromstärken von mehr als 50 Milliampere, so habe ich gelesen, sollen ausreichend sein, um das somatische Nervensystem zu zerstören. Steigen sie über eine Sättigung von 150 Milliampere: Exitus. Die Elektrokution wird wie ein bedauerlicher, wie ein bescheuerter Unfall wirken. Die meisten Menschen sterben zuhause. An und mit ihren Haushaltsgeräten, den Föhn, den Pürierstab, die Bohrmaschine noch in der Hand. »Na, was soll’s?!« wird der Pathologe sagen, und er wird ein Tuch über Tantchens Gesicht ziehen. Vorsichtig wird er dabei zu Werke gehen, sie nicht berühren, um das gesottene Fleisch nicht von den Knochen zu lösen. Wegen der Verbrennungen an der Hand und am Arm werden sich Eiterblasen gebildet haben, die wie kleine rote Tümpel aussehen. Tümpel, so tief, daß auf ihrem Grund Höhlen sein könnten, Höhlen mit Gängen, die man schwimmend durchqueren, durch die man auf die andere Seite hinübergelangen könnte.

Der Sekundenzeiger. Der Sekundenzeiger.

Das Haus steht immer offen. Ein Ersatzschlüssel für die Wohnung liegt im Keller. Mein Tantchen ist so vergeßlich! Sie wird gegen 20 Uhr weggehen. Um diese Zeit ist auf dem ganzen Weg von der Metro bis zu ihrem Haus auch nicht mehr eine Straße beleuchtet. Die Menschen werden vor ihren überlauten Fernsehern sitzen, Castingshows auf allen Kanälen, nur die blöde Töle aus dem vierten Stock, die ihr Herrchen am Ton der Auto-Zentralverriegelung erkennt, wird lautstark bellen, das ganze Haus zusammenbellen. So daß mich niemand hören wird. Das Austauschen des Pürierstabs: zwei Minuten, höchstens drei, je nachdem, ob mein Tantchen ihn von Hand gesäubert, in die Spülmaschine oder auf die Wandhalterung gesteckt haben wird. Das Überbrücken der Sicherung: zehn, fünfzehn Minuten. Aber Tantchen wird nicht vor vier Uhr morgens heimkommen. Und ich werde, kaum daß die Spielshows begonnen haben, wieder auf der Straße sein. Die einzigen, die mir begegnen, sind Studenten, die Flasche Bier in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, im Wohnheim dürfen sie nicht trinken, nicht rauchen, nicht randalieren. Ich werde zwei Flaschen Wodka im Magasin kaufen und das Restgeld auf der Theke liegen lassen. Befreiung, so habe ich beim ungarischen Dichter György Konrád gelesen, sei es, vom Mörder zum Geliebten zu werden. Aber das funktioniert nur in der Literatur.

Nächster Morgen, 7:32 Uhr. Ein auf Vibration geschaltetes Handy tanzt wie verrückt auf einem Glastisch, der ganze Tisch vibriert. Niemand geht ran. Niemand scheint zuhause zu sein. Obwohl ich auf dem Sofa liege. Der Restalkohol läßt mich wie in einer Retorte eingesperrt atmen. Mein Leben in vitro. Ich bin nicht da, einfach nicht da. Das Handy macht eine kurze Pause, dann meldet es sich mit einem schweren Brummen nochmals. Ich weiß, was mich erwartet, würde ich zum Telefon greifen.

Sie haben – eine – Nachricht auf Ihrer Mailbox.

Erste Nachricht auf der Mailbox.

Leck mich.

7:34 Uhr. Der Sekundenzeiger der Uhr steht still. Leise summt die Gasleitung. Ich werde wieder einschlafen. Wenn ich mich ganz fest auf Großpapa konzentriere, werde ich wieder einschlafen. Ich arbeite an einem widerspenstigen Webstoff, und ich muß zurück, zurück zum Anfang, zu einem Anfang. Oder aber zum Ende. Zum ersten Ende, mit dem alles begonnen hat. Großpapa.

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