Art und Qualität unserer Treffen hatten sich verändert. Wir mußten vorsichtiger zu Werk gehen. Tanja fürchtete die Neugier der Kleinstädter, fürchtete Marya, fürchtete für Marya, wenn sie etwas zu sehen oder zu hören bekäme, was sie nach all dem anderen nicht auch noch sehen oder hören sollte. Ich fürchtete vor allem Alezja, die mit bösartigen Kommentaren nicht sparen würde. Mindestens mit bösartigen Kommentaren.
Wir begannen, Treffpunkte zu verabreden, Treffpunkte außerhalb des Städtchens. Treffpunkte, die für Tanja noch gut zu erreichen waren. Treffpunkte, die uns auch über den Winter ein sicheres und einigermaßen warmes Plätzchen garantierten. Wir trafen uns Freitag vormittags zum Sex. Wir gingen wieder auseinander, die Lippen so lange wie möglich aufeinandergepreßt, Tanja kehrte zurück ins Haus, ich fuhr nach Hrodna, um einen Kaffee und hundert Gramm Wodka zu trinken, um mich abzukühlen, um ihr den nötigen Vorsprung zu lassen. Eine Stunde später kam ich nach, das Auto ließ ich in der Nähe der Busstation stehen; für die anderen blieb ich Zugfahrer, blieb ich Fußgänger, außer zu besonderen Anlässen, dann parkte ich das Auto ostentativ vor dem Haus. Meist war Marya schon zurück von der Schule, ich begrüßte die beiden mit großem Hallo und war froh, daß Manja mich weiterhin wie einen Fremden behandelte, denn noch trugen meine Lippen den Geschmack, den Geruch von Tanjas Scham, und hätten mich, hätten uns verraten. Alezja war ohnehin selten zuhause. Ich sah sie nur Samstag morgens, zu der Zeit, wenn Tanja und ich nach allen Regeln der Kunst Tante und Neffe, höfliche Distanz spielten. Alezja stand in einem langen ausgefransten Micky-Maus-Shirt in der Küche und schnippelte und zermatschte Bananen, die sie mit Kondensmilch vermischte und auf ihrem Zimmer als Brei trank. Die übrige Zeit trieb sie sich außer Haus herum, niemand wußte wo, wir hatten aufgehört zu fragen. Witterte Lesja so etwas wie Bevormundung, gebärdete sie sich wie tollwütig und kam nächtelang nicht zurück. Ich wollte nicht daran schuld sein, daß meine mittlere Tante mit ihren gerade einmal 19 Jahren irgendwann auf der Straße landete, nur weil ich nach gemeinsamen Bekannten gefragt hatte (natürlich vor allem aus Selbstschutz, damit Tanja und ich gewisse Plätze hätten vermeiden können).
Sonntags brachte mich Tanja zum Bahnhof, wir fuhren hinaus, hatten Sex, kurzen kalten Wintersex im Auto, unsere Lippen so lange aufeinandergepreßt, bis wir endgültig Abschied voneinander nahmen. Bis wir uns mit dem Wissen abgefunden hatten, daß nun wieder ein, zwei dieser endlosen Wochen vergingen, bis wir uns wiedersehen würden.
Tanja hatte ein Telefon angeschafft. Das war ein Anfang. Aber auch das Telefonieren stellte sich als schwierig heraus, besonders für sie, schließlich mußte sie Neutralität wahren. Ein paarmal gelang es mir nicht, sie an den Hörer zu bekommen. Alezja sprach schier endlos auf mich ein, der Apparat schien ihren Charakter zu verändern, und ich sah, wie ein Rubel nach dem anderen von der Telefongesellschaft aufgefressen wurde. An einem Herbstabend sprach sie einen ganzen Spielfilm hindurch. Es war ein Kinderklassiker in Schwarzweiß, er handelte von der Baba Jaga. Ich hatte den Ton abgestellt, sah, wie sich die Hexenhütte auf Hühnerbeinen fortbewegte, sah finstere Gesichter und verzweifelte Mienen, das stumme Händeringen der in Ketten gelegten Kinder, menschlicher Proviant, ich hörte Lesja lästern, fluchen, sich empören über jeden Kunden, der im letzten Vierteljahr den Fleischerladen betreten hatte. Jeden zweiten, sagte sie, würde sie liebend gern zu Tatar verarbeiten. Im Hintergrund wetzte die Baba Jaga das Messer. Ich schaltete um, sah das Gesicht des Präsidenten in Großaufnahme, schaltete weiter, abermals auf das Gesicht des Präsidenten und wieder und wieder. Endlich fand ich einen Sportsender.
Die langen Wochenenden ohne Tanja. Immer wieder begann meine Sehnsucht in Aggression umzuschlagen, die zu unterdrücken mir nur selten gelang. Zwei Rasierapparate und ein Radiowecker mußten daran glauben. Ich hätte einen prima Kulaken abgegeben.
Und doch war es eine erfüllte, eine erfüllende Zeit. Ich wollte kein Schrecken ohne Ende sein. Meine Ruhelosigkeit nahm nicht ab, aber sie hatte sich einen Punkt geschaffen, dem sie entgegenhasten konnte. Je komplizierter unsere Rituale gerieten, desto deutlicher zeichnete sich dieser Punkt ab, wurde mehrdimensional, war kein Punkt mehr, wurde zum Körper, war dieser Körper, in den ich, unregelmäßig und ungestüm, meine Energie, mein ganzes Leben entlud. Ich liebte die Zeit, da ich liebte.
Die Spechte klopften. Es war wieder Frühling, mein Kühlwasser roch nach Anemonen. Und Tanjas Gedanken kreisten um Marya.
Sie war jetzt beinahe ein Jahr auf der Schule und noch immer hatte sie keine Freundin mit nach Hause gebracht. Sie lachte selten, spielte für sich allein, sie wollte viel für sich sein, ging Lesja aus dem Weg, duldete nur Tanja um sich. Mich schien sie hinzunehmen wie eine wiederkehrende Krankheit, die nun einmal zum Leben gehörte, ein Schnupfen, der kam und ging. Die Wochen, in denen ich in Minsk war: die Inkubation, Freitag war die Zeit des Ausbruchs, Samstag lief die Nase und der Sonntagmittag sah schon der Heilung entgegen.
Nur daß es für Marya keine Heilung gab. Im Weltbild einer Nierenkosterin waren Heilungen offenbar nicht vorgesehen.
Marya war ein hübsches Kind, mit dem ovalen Gesichtsschnitt, dem schmalen Kinn, ihren fast schwarzen Augen, und dem braunen Haar, das nur um ein weniges heller als das ihrer ältesten Schwester war, und das immer so aussah, als wäre es feucht, frisch gewaschen. Als hätte, so dachte ich, die Natur noch einmal all ihre gestalterische Kraft zusammengenommen und verschmolzen in einer Person dieser Familie.
Dies hübsche Kind wurde immer blasser, seine Augensterne »veralgten« (Tanjas Wort dafür), es verlor seine Milchzähne vor der Zeit, die Ärzte winkten ab, ordentliche Spaziergänge würden genügen. Doch nach Spaziergängen stand Manja nicht der Sinn, auch zu Ausfahrten im Auto hatten wir sie vergeblich zu überreden gesucht. Tanja träumte wiederholt von Tod und Aufbahrung ihrer kleinen Schwester, ihr Aberglaube raubte mir schon morgens den letzten Nerv, und so beschloß ich, um jeden Preis dafür zu sorgen, daß Maryae Himmelfahrt noch lange auf sich warten lassen würde.
Ich hatte eine Idee, aber im Grunde keine Ahnung, was ich tat, als ich außerhalb unseres Wochenrhythmus’, es war ein Mittwoch, ein aberwitzig großes Paket mit aberwitzig großer Schleife mitbrachte, so groß, daß meine Arme es beim Tragen kaum umfassen konnten. Tanja sah auf mich, sah auf das Paket, sah auf mich, sie kratzte sich ausgiebig an der Nase, bevor sie sich entschloß, Manja herbeizurufen. Deren Eintritt in die Küche entbehrte nicht einer gewissen Erhabenheit: Enter Hamlet, allerdings im Kinderkleidchen.
»Wasja hat ein Geschenk mitgebracht.«
»Ein Geschenk?«
»Ein Geschenk«, wiederholte ich.
Maryas Augen hellten sich eine Sekunde auf, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dann zuckten ihre Mundwinkel, erdenschwer. Immerhin trat sie näher an das Paket und schüttelte vorsichtig daran. Nichts. Vehementer. Nichts, kein Geräusch.
»Aber…«, sagte sie, und wußte nicht, wie sie das alles deuten sollte.
»Mach doch mal auf«, sagte Tanja.
Marya löste die Schleife, behutsam, sorgsam, sah immer wieder her zu uns, aber ihre Augen schweiften nie über unsere Körpermitten hinauf. Dann nahm sie den Pappdeckel ab und sah hinein.
»Aber das ist ja total leer.«
»Na klar«, sagte ich.
Marya starrte mich an, wußte nicht, ob ich richtig gemein sein oder sie einfach nur veräppeln wollte. Was für sie auf das gleiche hinauslief.
»Aber es ist doch ein Geschenk, warum ist es dann leer?« »Es ist ein Geschenk für mich . Es ist leer, weil du erst noch was reinlegen mußt.«
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