Stanislau begann, seine Stimme herunterzuschrauben. Ich tat es ihm gleich und sah mich nach rechts und links, nach hinten rechts und hinten links um.
»Ich hab davon gehört. Eine göttliche Stimme soll dem Herrn Präsidenten befohlen haben: Geh hin, nimm das Schlechteste aus Sozialismus und Kapitalismus, laß es auf kleiner Flamme köcheln, und fürder nenne es ›Belarus‹.«
»Würde dir das gefallen, Wasja? Was hätte der Rote Stepan dazu gesagt?«
»Du hast den Kapitalismus nicht gesehen, Stas. Du hast nicht gesehen, wie die Leute in den Januarnächten auf der Straße verrecken. Ein paar Banker werfen ihnen kleine Geldscheine auf den Buckel. Wenn’s nicht zu einem Haus reicht, reicht’s vielleicht als Zudecke.«
»Mag sein, ich kenne den Kapitalismus nicht. Aber ich hab mich in den letzten drei Jahren daran gewöhnt, das Maul aufmachen zu können, wenn mir danach ist. Glaubst du, das wird man noch zulassen?«
»Das ist nicht Hitler. Geschichte wiederholt sich nicht.« »Ich dachte nicht an Hitler. Falscher Bart. Eher an Väterchen Stalin. Willst du, daß die Sowjetunion wiederkommt, Wasja?«
»War die denn jemals weg?«
»Du hast doch keine Ahnung, du warst ja nicht mal da, als es darauf ankam.«
»Fahnenflucht, ich weiß, ich weiß.«
Ich gähnte demonstrativ. Stanislau knirschte mit den Zähnen.
»Bist du ein Demokrat, Wasja?«
Ich überlegte.
»Dä-mo-krat…? Ach, jetzt weiß ich, du meinst dieses Rundumsorglos-Paket, das uns der Westen als seinen Exportschlager verkauft? Hübsch verpackt. Bürgerrechte mit Schleifchen. Liegt aber eine ordentliche Portion kapitalistische Scheiße drin. Geht angeblich nicht ohne. Macht die Ware erst schwer. Und sorgt für den richtigen Stallgeruch. Der ist nämlich wichtig im Westen. Das meinst du?«
Stanislau trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch.
»Nein, ich glaube, davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt, Stas.«
Ich lehnte mich zurück. Stanislau zog sein Tablett an sich, dann stand er auf, hielt mir die rechte Hand hin.
»Das wird schon. Darauf wette ich.«
»Topp«, sagte ich und schlug ein.
Es wurde Herbst, aber es blieb unsinnig heiß. Tatsiana lag hinterm Haus, döste. Die Sonne brach sich in tausend winzigen Schweißtröpfchen, jedes von ihnen eine Lupe, die die Strahlen auf dem Rücken meiner Tante bündelte. An den Armen war die Haut rot geworden, sie würde sich zu schälen beginnen, womöglich würden sich Eiterblasen bilden, die wie kleine rote Tümpel aussähen. Ich vergewisserte mich, daß weder Marya noch Alezja zuhause waren, dann kroch ich vorsichtig heran und begann, mit meiner Zunge in Tanjas Nacken zu spielen. Sie schrak auf, schob mich weg, dann lachte sie und zog mich wieder an sich.
»Ich hab noch gar nicht mit dir gerechnet.«
»Sieht man, sonst hättest du ja eine Küchenschürze an und keinen Bikini.«
»Ich koche immer im Bikini.«
»Sieh mal an. Auch zu Großmamas Zeiten?«
Tatsiana schwieg. Ich nahm mir vor, den Namen Großmama aus meinem Vokabular zu streichen, zumindest an den Wochenenden, wenn ich zuhause wäre.
Ich reichte ihr das Kleid, das sie als Kopfkissen benutzt hatte, zog sie voller Ungeduld vor das Haus. Zu meinem neuen Freund. Sie protestierte, die Bodenplatten waren so heiß, daß sie unter ihren Füßen brannten.
Ich hatte mir einen Gebrauchtwagen gekauft. Einen roten Dacia. Die Zugreisen wurden mir lästig und sie sorgten dafür, daß wir die Wochenenden immer nur im Städtchen verbringen konnten. Ich wollte Ausflüge unternehmen, Tanja wiederbeleben, die von der Routine zwischen Job und Marya zuweilen wie eine Komatöse wirkte.
»Du spinnst ja. Wo soll ich denn die Kleine lassen?«
»Lesja könnte auf sie aufpassen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Wasja!«
»Nur hin und wieder. Aber wir könnten sie auch mitnehmen. Es gibt nichts, was sie nicht sehen dürfte, oder?«
Sie sah mich mit fragendem Blick an.
»Um die Kohle mußt du dir keine Sorgen machen, Tanja, das weißt du.«
»Und wo soll die Kleine deiner Meinung nach sitzen?« Das war allerdings eine gute Frage. Das Auto wäre unter Umständen groß genug gewesen, hätte ich es nicht von vorn bis hinten vollgestopft mit den überlebenswichtigen Dingen: See- und Schlafsack, Isomatte, Getränke- und Konservenbüchsen, Werkzeugkoffer, Kartenmaterial für Ost- und Mittelosteuropa. Mein neuer Freund war kaum geeignet für den Transport von mehr als (m)einer Person.
Ich öffnete die Beifahrertür, lockte Tatsiana, bat sie, alles, was aus Blech war, nach hinten zu werfen, dann hätten wenigstens wir beide Platz. Die Milinkiewitsch, eine Nachbarin, sah herüber, grüßte, rief in Trasjanka:
»So ein schöner Wagen! Der hätt’ dein’ Großvater aber gefreut. Gott hab ihn selig!, die vermaledeite Rückenentzündung!«
Ich setzte mich augenrollend. Dann startete ich den Motor. Tanja protestierte, in kaum einer Stunde wäre Marya von der Schule zurück. Doch ich quengelte so überzeugend, daß sie sich in ihr Schicksal ergab. Ich war in jedem Fall das anstrengendere Kind.
Wir fuhren ins Offene. Ich konnte Tanjas Sonnencreme riechen. Und ihren Atem. Er war säuerlich, Buttermilch, dachte ich, sie hatte geraucht. Kaum war Marya aus der Tür gewesen, hatte sie sich eine Zigarette angesteckt. Ich wußte, daß sie es auch mit einem Gedanken an mich getan hatte, weil ich heute wieder nach Hause kam.
»Wenn du rauchen willst: ich hab Zigaretten. Irgendwo auf dem Rücksitz müßten sie sein.«
Tanja streichelte mir über den frisch geschnittenen Haaransatz an meiner Schläfe.
»Irgendwo auf dem Rücksitz müßte auch ein Alligator sein, oder?«
»Wenn er unter dem ganzen Krempel noch atmen kann.« Tanja begann zu suchen, dann zog sie abrupt die Hand zurück.
»Was ist?« fragte ich.
»Jetzt hat er mich gebissen.«
»Nicht so schlimm«, sagte ich, »solange es kein Komodowaran war. Es gibt nur ein Lebewesen auf der Welt, das seinen Biß überlebt hat.«
»Und das wäre?«
»Mein Freund Gábor aus Budapest.«
»Der hat den Bakterien-Cocktail im Speichel überlebt?«
»Ja.«
»Wie hat er das angestellt?«
»Fünf Jahre ungarische Musiker-WG.«
Tanja lächelte, tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Sie hatte inzwischen gefunden, was sie suchte und inhalierte den Rauch mit sichtlichem Vergnügen.
»Glaubst mir nicht, was? Du hättest die Wohnung sehen sollen.«
»Lieber nicht. Ich hol mir meine Resistenzen lieber über ganz normale Impfspritzen.«
Wir waren an einem Kriegsmonument angekommen, das sonntags nur so von Brautpaaren wimmelte, die Kränze niederlegten und sich rittlings auf einem Panzerrohr ablichten ließen, die Frauen mit Röcken, die stets ein wenig zu kurz waren. Oder zu lang. Jetzt, Freitagmittag, war der Platz wie ausgestorben. Ich stellte den Motor ab. Wir blieben im Auto sitzen. Tanja rauchte weiter, zeigte mir ihr Profil.
»Cola-Dosen. Erbsenbüchsen. Ein ganzes Survival-Pack. Du brauchst das Zeug nur, weil du schnell wieder weg sein möchtest, wenn es darauf ankommt, oder?«
Ich stützte mich auf das Lenkrad. Was ich jetzt am wenigsten erwartet hatte, war eine Grundsatzdiskussion.
»Vielleicht«, sagte ich, »ein guter Gast ist ein auf alles vorbereiteter Gast.«
»Du fühlst dich also zu Gast bei mir?«
»Ich bin überall nur zu Gast. Auch in meinem eigenen Leben.«
»Wie pathetisch! Und du glaubst nicht, daß das auch an dir liegt?«
Immer nur Gast sein, sagte der Großpapa, sei unser ungarisches Erbe, Punktum! Erst hatten die Europäer die Ungarn mitten im Nichts angesiedelt, dann hätten die Aftersozialisten es ihnen auch noch unmöglich gemacht, dieses Land zu verlassen. Was das für ein altes Nomadenvolk bedeute, ihm Ketten anzulegen? Den Untergang. Den Untergang in der Melancholie. Den Untergang im Suff. Ich soff nicht. Ich fuhr Auto. Ich nomadisierte wie meine Altvorderen.
Читать дальше