Unter diesen Umständen war Tatsiana noch gut weggekommen. Wir saßen zuhause, hatten Wodka auf den Tisch gestellt.
Marya war in ihr Zimmer enteilt. Der Weihrauchgeruch benebelte mir noch immer die Sinne.
»Und wie geht es jetzt weiter bei euch?«
Tanja zuckte mit den Schultern.
»Ich schlage vor, ihr legt euch zuerst einmal ein Telefon zu. Es war abenteuerlich, euch zu erreichen.«
»Es war abenteuerlich, dich überhaupt ausfindig zu machen, Wasja.«
»Wann wirst du dein Medizinstudium beginnen?«
»Erst muß Marya aus dem Gröbsten raus sein.«
»Marya ist aus dem Gröbsten raus, sie kommt in die Schule.«
Tanja lächelte mitleidig.
»Marya wird nie aus dem Gröbsten raus sein. Du warst nicht da, Wasja, du hast das alles nicht erlebt.«
»Fahnenflucht, ich weiß, ich weiß.«
»Siehst du sie irgendwo, Wasja, siehst du Marya? Du siehst sie nicht. Sie hat Angst vor Fremden. Du bist ein Fremder für sie. Sie hat auch Angst vor Alezja. Manchmal hat sie sogar Angst vor mir. Ich höre sie nachts lange beten und weinen. Ein sechsjähriges Mädchen sollte nicht lange beten und schon gar nicht lange weinen müssen. Glaubst du, ein solches Kind kann man auf eine Ganztagsschule schicken? Glaubst du, wir könnten uns eine solche Schule überhaupt leisten?«
Ich bot Tatsiana meine Unterstützung an. Sie lehnte ab. (Aber ich ersann in den nächsten Wochen doch Mittel und Wege, ihr monatlich Geld anzuweisen, das sie nicht gut ablehnen konnte. Sie hat die vermeintlich »staatliche Unterstützung« nie hinterfragt.)
Am nächsten Morgen fand ich Tanja auf dem Sofa schlafend. Über meine stumme Betrachtung erwachte sie. Der Abdruck der Lehne, rot, auf ihrem Gesicht. Sie rieb sich die Augen, es war erst halb sechs.
»Um die Zeit? Was treibst du?« fragte sie verschlafen.
»Jetlag.«
Tanja fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, sie wusch sich mit trockenen Fingern.
»Ach, Wasja.«
»Keine Ahnung. Hab nicht mehr schlafen können. Dachte, ich geh ein bißchen spazieren.«
»Du kannst mir mit Marya helfen, wenn sie wach ist. Wenn sie sich helfen läßt von dir.«
Sie ließ sich nicht helfen. Ich ging spazieren.
Es war eine diffuse Nacht gewesen. Ich schlief sofort ein, schlief traumlos, drei, vier Stunden lang, dann erwachte ich und fand nicht mehr in den Schlaf zurück. Mein Bettzeug roch nach dem Kackruß, das ganze Haus roch nach der Tyrannei von Großmama. Und, merkwürdig, ich fühlte mich mitschuldig an dem, was geschehen war. Als hätte ich auf Tanjas Kosten studiert, als hätte ich ihr mit einem Mal etwas abzubitten, nicht umgekehrt. Meine Zeit in Budapest erschien mir wie eine verbrecherische Willkürtat, eine Zeitverschwendung, eine Vergeudung meiner Ressourcen, meiner finanziellen und geistigen Ressourcen. Und eben auch wie eine Fahnenflucht.
Wir sprachen den Tag hindurch, wir zersprachen den Tag: Tanja, Alezja und ich. Ich erzählte von Ungarn, von der Universität, davon, wie in Budapest Mobiltelefone die Welt zu regieren begonnen hatten, und man jedem Trottel, der zu Selbstgesprächen neigte, dazu riet, sich buntes Plastik mit herausstehenden Drähten ans Ohr zu halten, um nicht weiter aufzufallen. Ich erzählte von den Jugendbanden, die ganze Viertel kontrollierten, und davon, daß das Parlament auf der ehemaligen Mülldeponie erbaut wurde, so daß die Ungarn sagten: »Kein Wunder, daß unsere Geschichte im 20. Jahrhundert nur Dreck war!«
Von Großpapas Besuchen erzählte ich nicht.
Die Familie um uns herum war ausgelöscht, nimmt man einmal Onkel Janka aus, der sich seit Vaters Tod nur noch sporadisch hatte sehen lassen. Seine Geschäfte gingen schlecht, er kam, um Großmama um Geld zu bitten (oder, da ich einer Familie entstamme, in der man Bitten für Betteln hält, und deshalb von vornherein zum Befehlen neigt: um ihr Zahlungsanweisungen zu geben). Wir waren aufeinander geworfen, mehr als je zuvor. Wir gingen nach Draußen, auf die Suche, aber wir wandten uns doch immer wieder nach Drinnen, an diejenigen, die wir wirklich oder vermeintlich seit unserer Kinderzeit kannten.
Am frühen Abend schliefen Alezja und Marya auf dem Sofa ein.
»Ein seltener Anblick«, kommentierte Tanja, »das ist dein Verdienst.«
»Weil ich sie totgeredet habe?«
»Nein, weil du da bist. Einfach nur da.«
Tanja zog mich vors Haus. Es hatte merklich abgekühlt, Ostwind wehte. Sie hatte einen Tisch und zwei Stühle besorgt, um Veranda-Atmosphäre zu schaffen, und in der Tat, wäre mein Blick nicht auf Großpapas Schrottberg gefallen, ich hätte mich in einen Western versetzt gefühlt, Rock Hudson an der Seite von Julie Adams. Und war das nicht Tumbleweed, dort, in der Ferne?
Tanja zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie in schnellen Zügen, dann drückte sie sie in einem kleinen Blechaschenbecher aus, dessen leichtere Seite immer wieder von der Tischoberfläche sprang und beim Wiederaufkommen ohrenbetäubend schepperte.
»Du bist die lauteste Raucherin, die ich kenne.«
»Und wahrscheinlich auch die hastigste.«
Sie hatte sich zu einer Feierabend-Kettenraucherin entwikkelt. In einem Zeitraum von zwei oder drei Stunden, kaum daß Marya im Bett war, qualmte sie die Kippen eines ganzen Tages. Zwischendurch brannte sie sich mit der Glut Mückenstiche aus.
»Warum bist du nie nach Hause gekommen, Wasja?«
»Weil die Zugfahrt von Budapest schier endlos ist.«
»Ich meine die Zeit im Internat.«
Ich suchte, keine Miene zu verziehen.
»Du hast keine Ahnung, wie es für mich war, Wasja, keine Ahnung.«
»Hm, nein, erzähl mal. Waren all deine Freundinnen plötzlich weg? Mußtest du auch in eine neue Schule? Haben sie dir dort Disziplin eingeprügelt? Haben dich alle Menschen verlassen, die wichtig für dich waren?«
»Nur einer. Aber das war schlimm genug.«
Ich sah auf Tanjas Hände, die einen Moment ohne Zigarette blieben. Die rechte hielt die linke. Oder die linke die rechte. Sie waren so sehr ineinanderverschränkt, daß das schwer auszumachen war.
»Ich wollte es uns so leicht wie möglich machen. Und hab uns damit wohl alles unendlich schwer gemacht.«
Ich schwieg. Begann, Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher zu fummeln und sie auf dem Tisch wieder gerade zu biegen.
»Ich wollte dir nicht im Weg stehen, ich dachte wirklich, für dich wäre das gut. Du kommst raus, du findest neue Freunde.«
»Und natürlich hast du dabei kein bißchen an dich gedacht.«
»Was hätten wir hier schon bieten können? Pioniertage in Hrodna. Kolja besoffen im Keller. Onkel Janka auf dem Pferdemarkt.«
»Polaroids für die Ewigkeit.«
Tanja schlug die Beine übereinander. Sie beschäftigte sich mit einem neuen Mückenstich. Dabei schob sich ihr Rock so weit über den Oberschenkel, daß ich den Saum ihres Slips sehen konnte.
»Wir zwei hätten daran nichts geändert. Unsere Großen haben doch nie gefragt, was wir eigentlich wollen.«
»Was wolltest du denn, Tanja?«
Sie drehte sich halb weg von mir, ich sah ihr Profil, sah, wie sich der Rauch um ihre Schneidezähne bewegte, die noch immer ein wenig vorstanden. Betörend.
»Merkst du eigentlich, daß du mich immer weggeschubst hast, wenn ich nicht gesagt habe, was du hören wolltest? Immer, wenn es darauf ankam, hast du mich weggeschubst. Aber ich will, wenn man mir den kleinen Finger bietet, nicht nur die ganze Hand, sondern den ganzen Menschen, Wasja.«
Ich verstand nicht, wovon sie sprach. Ich verstand nur, daß mir unser Gespräch ein Loch in den Magen grub, als hätte ich zu wenig gegessen oder zuviel geraucht. Ich hörte das Sirren der Gefriertruhe, ein neuer Film, ein alter Film, die Bilder unvergessen: Tanjas Trägerkleid bis weit über die Taille hochgerutscht, der lilafarbene Halo einer Brustwarze, ich spürte, wie sich mein Schwanz gegen den Reißverschluß der Hose aufbäumte.
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