Die Flasche war halbleer, als ich auf dem Schlittenhügel ankam. Ich hatte Mühe zu stehen. Ich hatte Mühe zu sehen. »Fünf Finger sehe ich, gell?, einen, zwei, drei, vier, fünf«, Rasou hatte mir bewiesen, daß es sich nicht um Methylalkohol handelte. Ich war beruhigt. Und beruhigt mußte ich eingeschlafen sein. Als der Mond unterging, wurde ich wach. Der Selbstgebrannte war umgefallen, sein Inhalt über mein rechtes Hosenbein geflossen, es fühlte sich kalt an. Ich trank die Neige, warf die Flasche den Hügel hinab, dorthin, wo unsere Schlitten immer zum Stehen gekommen waren.
Dann sah ich Großpapa.
Er kam den Weg vom Städtchen herauf, am Friedhof vorbei. Die Entzündung war noch immer nicht besser geworden, er ging gebeugt, mit einer Hand stützte er seinen Rücken. Kurz vor der Hügelkuppe blieb er stehen und nickte mir zu, ich roch den Aprikosenschnaps, einen Hauch von Salmiak. Beide sahen wir hinab aufs Land.
»Wo warst du die ganze Zeit?« fragte ich schließlich.
»Wo warst du denn?«
»In Minsk.«
»In Minsk, oho.«
»Sie haben mich ins Internat gesteckt.«
»Hmhm.«
»Sie haben mich loswerden wollen. Und jetzt haben sie mich los.«
»Ich glaube, jetzt hast du sie los.«
»Wie meinst du das?«
»Sag, würdest du mir einen Gefallen tun?«
Es war dunkler geworden während unserer Unterhaltung.
Beide blickten wir noch immer in die Ferne, ohne einander anzusehen. Ich zuckte mit den Schultern.
»Dann tu ich dir auch einen Gefallen.«
»Was ist es?«
»Ich möchte noch einmal Budapest sehen. Ich möchte zu den alten Plätzen. Nach Ferencváros. Auf die Burg, wo die Panzer standen. Nimmst du mich mit nach Budapest?«
Ich stöhnte auf.
»Budapest ist weit. Und in Ungarn ist jetzt der Kapitalismus.«
»Ja, das hatte ich befürchtet.«
Wir schwiegen.
»Aber um das Geld mußt du dir keine Sorgen machen. Dein Vater war ein Hamsterer.«
»Den Keller haben Großmama und Onkel Janka schon klar gemacht.«
»Wer redet denn vom Keller?«
Ich hob meinen Kopf in seine Richtung und glaubte, ihn lächeln zu sehen.
»Wer redet vom Keller, Kleiner?!«
Ich entdeckte Vaters Legat in der Garage, in Großpapas alter Werkstatt, versteckt in einem ausgebeinten Elektromotor. Seit dem Tod des Alten hatte hier niemand aufgeräumt, niemand den Verschlag betreten. Ich fand eine so große Summe Devisen, daß ich, für diesmal, nicht nur eine Augenbraue hob. Dann lag da noch ein Zettel, auf den Vater in großen Druckbuchstaben geschrieben hatte.
Mach was aus deinem Leben. Am besten hau ab von hier.
Ich weiß nicht, ob das mir galt, oder jedem, der diesen Schatz hätte heben können. Ich weiß nicht, ob Vater damit rechnete, daß ich es wäre, der die Werkstatt des Alten eines Tages ausräumen würde, und daß er mir auf diese Weise ein einziges Mal im Leben etwas Gutes tun wollte, nicht einfach nur etwas antun, sondern etwas Gutes tun.
Überzeugt war ich davon keineswegs.
Ich spürte, wie der Elektronen-Beschleuniger seine Arbeit wieder aufnahm. Ich mußte mich fassen, ich mußte die Ereignisse dieser Nacht in einen halbwegs logischen Zusammenhang bringen. Der Selbstgebrannte. Der Schlittenhügel. Der Deutschmarkmotor. Ich bekam so starke Kopfschmerzen, daß ich Blitze vor meinen Augen tanzen sah. Ich rettete mich hinüber ins Haus, barg die Banknoten in meinem Rucksack, ich schlief nicht, ich übergab mich in meinen alten Kindernachttopf, ein um das andere Mal, kämpfte stöhnend gegen die Schmerzen. Und als sie endlich nachließen, schlief ich noch immer nicht, ich tauchte, tauchte immer tiefer, tiefer und tiefer, ich konnte nicht atmen, ich mußte meine Tauchermaske vergessen haben und mein Atemgerät, der Druck auf die Schläfen war unerträglich, ich tauchte und tauchte und tauchte, ohne zu atmen, und dann sah ich eine Höhle vor mir, einen Karstgang, das Wasser wurde wärmer, und ich schwamm hinein.
Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.
Der Fliegenfänger von Budapest
Zweierlei stand vor der Ausreise nach Ungarn auf meiner Liste:
1. Musterung
2. Aufenthaltsgenehmigung
Item:
Die Zeiten waren danach, das Militär mußte sich eine neue Ordnung geben, ich fiel durchs Raster. »Herzschwäche« stand auf dem in allen vier Ecken gestempelten Blatt. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausmusterungsbescheid.
Item:
»Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen«, sagte der Typ auf dem Paßamt in einem anbiedernd klingenden Weißrussisch, das den Befehlston, der noch gestern hier geherrscht hatte, kaum verbarg.
»Und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg. Sie können doch nicht einfach weggehen von hier, ausgerechnet jetzt, das junge Land braucht junge Leute wie Sie.«
Als er ein wenig zur Seite rückte, sah ich, daß das obligatorische Bild mit dem Konterfei des Staatspräsidenten hinter ihm leer war. Kein Gorbatschow, kein gar nichts. Sie trauten dem Braten noch nicht.
Ich hatte keine Lust auf die unerwartete Komplizenschaft mit einem Uniformierten vom OWIR, der Registrierungsbehörde, und wechselte ins Russische.
»Ich höre immer ›jung‹. Ich dachte, die Leier von der sozialistischen Jugend sei abgespielt. Ich kann gar nicht sagen, wie alt ich mich fühle. Hier, fassen Sie mal meinen Arm an, fühlt sich das etwa an wie ein junger Arm? Ein Tschernobyl-Arm ist das, ein beschissener verstrahlter Tschernobyl-Arm. Und ich bin auch kein Hiesiger, nein, ich bin eigentlich ganz und gar nicht von hier.«
»Soso? Ab nach Moskau? Fahnenflucht, was?«
»Moskau…! Der große Bruder kann mich mitsamt meinen übrigen Verwandten gern haben! Ab nach Ungarn, ein Nomadenreiter, das ist, was ich bin. Ich will in den Süden, dorthin, wo es warm ist, wo Flüsse fließen, und nicht strahlen und verklumpen.«
Dann verlangte ich, einen jüngeren Kollegen zu sprechen. Ich hatte einen Kontaktmann. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausreisestempel in seinen Paß.
Als der Zug einfuhr, drückte mir Alezja einen festen Kuß, der nach Zigaretten schmeckte, auf den Mund und verlangte, ich solle ihr etwas Schönes aus Bukarest mitbringen. Sollte ich es bis Bukarest schaffen, beschloß ich, ihr etwas mitzubringen, schließlich hatte sie mich schon zum zweiten Mal in einen neuen Lebensabschnitt verabschiedet, während meine Restfamilie nur sprach- und fassungslos meinem Treiben zusah.
Ich kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern. Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten hatten es nicht einmal gewollt.
Jede Minute meiner Zugfahrt genoß ich, selbst den stundenlangen Aufenthalt in den Umspurhallen des Brester Bahnhofs, das Rangieren zwischen Sonne und funzeliger Hallenbeleuchtung, um den Zug zu »verwestlichen«, zumindest in seiner Spurweite. Ich kaufte selbstgemachte Bliny von fliegenden Händlerinnen. Die schrillen Schläge, die das Hämmern von Stahl auf Stahl erzeugte: Sie wurden zur Fanfare für meinen Aufbruch. Zum ersten Mal in meinem Leben verließ ich mein Land. Vielleicht wäre es das erste und letzte Mal, darüber hatte ich mir wenig Gedanken gemacht.
Kopfüber fiel ich. In die neue Stadt. Ich wußte nicht einmal, wo ich in Budapest übernachten würde. Im Zweifelsfall in einem feinen Hotel. Das Geld dafür hatte ich.
Als ich die ungarische Hauptstadt erreichte, war es tiefe Nacht. Als ich sie wieder verließ, war es tiefe Nacht. Zwischen jener Nacht und dieser lagen tausendundeine Nacht. Tausendundeine Nacht in meinem neuen Reich.
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