»Die kann was erleben, daß ihr Hören und Sehen vergeht.« Juts drückte ihre allgegenwärtige Zigarette aus.
Sie warf das Halstuch in die Wäsche und bügelte es dann mit den anderen Kleidungsstücken. Als Nickel nach Hause kam, fand sie ihre Kleidung ordentlich auf dem Bett gestapelt, das Halstuch obenauf.
»Oh-oh.« Nicky öffnete ihre Spielzeugkiste. Der Schlüssel zum Himmel ruhte auf dem Bauch eines abgenutzten Teddybären. Sie machte den Deckel wieder zu und überlegte, ob sie aus der Hintertür huschen und zu Wheezie rennen oder so tun sollte, als sei nichts geschehen. Als sie sich auf ihre Truhe setzte und über diese Krise nachdachte, hörte sie Juts' Schritte. Ein langer Schatten fiel neben die Tür. Yoyo kam zuerst hereingeschlüpft, gefolgt von Juts. Buster, der auf Nickels Bett lag, hob den Kopf und ließ ihn wieder fallen. Buster wurde langsam schwerfällig.
Juts ließ den Rosenkranz um ihren Finger kreiseln. »Nicky, hier ist deine Halskette.«
Nickel starrte auf das hypnotische Kreiseln. Sie hielt die gewölbten Hände darunter, und Juts warf den Rosenkranz hinein.
»Ich bin nicht böse auf dich.« Juts hatte sich vor Nicky aufgebaut. »Aber ich hab eine Stinkwut auf meine Schwester, diese fromme Eule. Komm.« Sie nahm Nickels Hand.
Sie fuhren mit dem Bus in ein Scherzartikelgeschäft auf der Frederick Road. Ein schwacher Geruch nach Moder und Alkohol waberte durch den Laden. Er war muffig, eng und düster und voll gestopft mit Artikel wie Fliegen in falschen Eiswürfeln, Furzkissen, Gummischlangen und -spinnen, Groucho-Marx-Nasen sowie Erotikartikeln, Letztere verborgen hinter der Theke. Dort thronte wie ein Koloß eine entfernte Cousine von Rob McGrail.
»Momma, wenn ich das unter Wheezies Sitz lege, gibt es einen Riesenknall.« Nickel hielt das Furzkissen in die Höhe.
»Das ist zu groß zum Verstecken. Ich hab eine bessere Idee.« Sie kaufte ein großes, täuschend echtes Stück Plastikkotze und erklärte Nickel auf der Heimfahrt, was sie in ihrem ersten Hochamt zu tun hatte.
»Momma, warum magst du die katholische Kirche nicht?«
Die Ahornbäume schwankten über ihnen. Ein leichter Wind milderte die Hitze. »Die evangelische Kirche ist für mich gut genug, und sie sollte auch für dich gut genug sein. Im Übrigen ist eine Kirche so schlimm wie die andere, also bleib bei der, die du kennst. Louise hält sich für die Jungfrau Maria, und Celeste Chalfonte hat an allem Schuld.«
Nickel wußte, wer Celeste war, wenn auch aus dem einzigen Grund, daß sie am Tag vor Nickels Geburt gestorben war und die Leute noch immer von ihr sprachen. »War Celeste katholisch?«
»Nein, sie war Episkopalin, ging aber genauso gerne in die evangelische Kirche. Das ist eine lange Geschichte. Ich mach's kurz. Louise hat gern auf einem alten Klavier von Celeste gespielt - nach Gehör, wohlgemerkt. Wheezie ist sehr musikalisch. Nach einem Riesenknatsch, weil Celeste Louise das Klavier nicht schenken wollte, hat Momma Celeste im Stich gelassen - sie hat bei Celeste gearbeitet, weißt du -, Celeste gab nach und überließ Momma schließlich das Klavier. Louise war völlig aus dem Häuschen. Sie spielte von morgens bis abends und war so entsetzlich entzückend, daß Carlotta Van Düsen, Celestes ältere Schwester, sie in die Immaculata-Akademie aufnahm und Celeste Wheezies Ausbildung bezahlte. So ist Louise katholisch geworden. Wegen dem Klavier.«
»In St. Rose of Lima ist es schön.«
»Ja, sicher, aber ich will nicht, daß mein Kind sich von so einem Itaker in Rom befehlen läßt.«
»Was ist ein Itaker?«
»Ach - egal. So, hast du dir gemerkt, was ich dir gesagt habe?«
Nickel nickte.
Der 23. Juli war das Fest der drei Weisen. Die Gebeine von Kaspar, Melchior und Balthasar befanden sich angeblich im Kölner Dom, bloß war von Köln jetzt nicht mehr viel übrig, und über den Verbleib der Gebeine der weisen Männer wurde wohlweislich geschwiegen. Vielleicht hatte ja ein streunender Schnauzer nach der Bombardierung ein heiliges Abendmahl genossen.
Das Fest fiel auf einen Sonntag, und Louise spann eine Geschichte, weshalb sie Nickel an diesem Tag brauchte, auch wenn es bedeutete, daß sie den evangelischen Gottesdienst versäumte. Juts tat, als glaubte sie ihr.
Als Louise an diesem Sonntag ihre Nichte abholte, lag die Plastikkotze zusammengefaltet in Nickels weißer Lacklederhandtasche, die zu ihren weißen Spangenschuhen paßte. Ein weißes Band war um ihre schwarzen Kraushaare gebunden.
Nickel übte im Geiste jeden Schritt. Sie war schweigsam, aber das war sie meist, so fiel es Louise nicht auf. Auch war sie zu sehr damit beschäftigt zu erklären: »Ich will ja nichts gegen deine Mutter sagen, aber.«, um sodann eine Litanei von Julia Ellens Sünden vom Stapel zu lassen, in der Hoffnung, daß Nikkel sie für sich behalten würde.
Louise trug so viel Schmuck zum Hochamt, daß sie einem schillernden Käfer glich, glänzend gepanzert. Sie lotste Nickel durch den Mittelgang in die Nähe des Altars. Am Ende der Bankreihen nahmen sie Platz. Pearlie, der im Rückstand war und an den Wochenenden arbeitete, hatte die Frühmesse besucht, deshalb waren sie nur zu zweit.
Mary Miles Mundis saß gegenüber, Rob McGrail ganz vorn. Nickel erwiderte jedermanns Lächeln. Alle fragten sich natürlich, warum das Kind mit Louise in der Kirche war und nicht mit ihrer Mutter in der evangelischen.
Die Prozessionshymne setzte ein, und die Musik erfüllte die schöne kleine Kirche. Licht strömte durch die leuchtenden Buntglasfenster.
Father O'Reilly schritt durch den Mittelgang, ihm voraus Peepbean, der Meßdiener, der das Weihrauchfaß schwenkte. Ein älterer Junge unmittelbar hinter Peepbean hielt den goldenen Krummstab. Hinter Father O'Reilly ging der neue Jungpriester, Father Stewart.
Als Peepbean an der Bank vorbeikam, brüllte Nickel: »Dein Handtäschchen brennt!« Dann warf sie die Plastikkotze.
Sie warf sie nicht an die Stelle, die Julia ihr vorgegeben hatte, nämlich Father O'Reilly vor die Füße. In ihrer Aufregung holte Nickel nicht weit genug aus, und die Kotze spritzte vor Mary Miles Mundis, der bei dem Anblick hundeübel wurde.
Peepbean sprang aus dem Weg, wobei er das Weihrauchfaß ein wenig zu hoch schwenkte. Es rutschte ihm aus der Hand und flog kreiselnd in Richtung Altar.
Father Stewart scherte geistesgegenwärtig aus der Prozession aus und sprintete ins Vestibül, um den Küster zu holen.
»Ich bring sie um!«, schrie Louise, als Peepbean ausholte, um Nickel einen Schwinger zu verpassen.
»Peepbean hat Röcke an«, hänselte Nickel ihn.
Die Gemeinde war in Aufruhr, als Louise Nickel am Handgelenk aus der Bankreihe zerrte, sie einen Moment in der Luft baumeln und dann fallen ließ, als Peepbean zum nächsten Schwinger ausholte.
Father O'Reilly schnappte sich Peepbean, Louise schleppte Nickel hinaus.
»Hast du dir das ausgedacht?«
»Nein.«
Das Klick-Klack von Louises hohen Absätzen hallte durch das marmorne Vestibül. Mit beiden Händen stieß sie die Tür auf, die so heftig zurückschwang, daß sie Nickel umwarf. Die rappelte sich hoch, öffnete die Tür und blieb auf der obersten Stufe stehen, von wo aus sie Louise zu ihrem Auto hasten sah. Louise brauste davon und ließ das Kind stehen.
Nickel ging zu Fuß nach Hause. Als sie dort ankam, versuchte Juts gerade auf Händen und Knien die Telefondrähte miteinander zu verbinden. Louise hatte in einem Tobsuchtsanfall die Kabel aus der Wand gerissen. Ihre würde sie auch noch aus der Wand reißen. Einmal, in den zwanziger Jahren, hatte sie im Bon-Ton eine Telefonzelle demoliert. Sie hatten ihre Kundenkarte zurückverlangt.
Louise mußte fünf Jahre gute Führung vorweisen, bis sie von dem Kaufhaus eine neue Karte bekam.
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