»Bin ein paarmal mit ihr ausgegangen. Großer Fehler.«
»Warum?« Harry schüttelte den Kopf.
»Ach, egal. Ist schon lange her.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Sie ist also Millys Patentante. Das überrascht mich.«
»Sie ist irgendeine Kusine oder so.«
»Und dabei schien mir das eine so nette Familie zu sein«, sagte Harry halb im Scherz. Dann runzelte er die Stirn. »Weißt du, das meine ich ernst. Sie sind eine nette Familie. Milly ist ein bezauberndes Mädchen. James scheint ein sehr anständiger Kerl zu sein. Würde ihn gern besser kennen lernen. Und Olivia …« Er öffnete die Augen. »Nun, was soll ich sagen. Sie ist eine feine Frau.«
»Du sagst es«, meinte Simon mit einem Grinsen.
»Zu dunkler Nacht würde ich ihr allerdings nicht gern begegnen.«
»Oder überhaupt in der Nacht.«
Kurzes Schweigen. Harry tropfte der Schweiß vom Kopf.
»Die Einzige, bei der ich mir nicht sicher bin«, sagte Simon nachdenklich, »ist Isobel. Sie gibt einem irgendwie Rätsel auf. Ich weiß nie, was sie gerade denkt.«
»Nein«, sagte Harry nach einer Pause. »Ich auch nicht.«
»An Milly reicht sie nicht ran. Aber ich mag sie trotzdem.«
»Ich auch«, sagte Harry mit leiser Stimme. »Ich mag sie sehr.« Eine Weile starrte er wortlos zu Boden und erhob sich dann abrupt. »Ich habe genug von dieser Hölle. Ich nehme jetzt eine Dusche.«
»Versuch doch diesmal, dich vorher auszuziehen«, riet Simon.
»Ja. Kluge Idee.« Er nickte Simon freundlich zu, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Als Rupert sich steif erhob, Allans Brief wegsteckte und das Museum verließ, war es bereits später Nachmittag. Eine Weile stand er am Trafalgar Square, beobachtete die Touristen, Tauben und Taxis, wandte sich dann um und ging gemächlich zur U-Bahn. Jeder Schritt wirkte unsicher und zittrig; er schien einen lebenswichtigen Teil seiner selbst verloren zu haben, der ihn im Gleichgewicht gehalten hatte.
Er wusste bloß, dass die eine Gewissheit in seinem Leben verschwunden war. Jetzt schien es ihm, als sei alles, was er in den letzten zehn Jahren getan hatte, Teil eines inneren Kampfes gegen Allan gewesen. Der Kampf war zu Ende, aber keiner von ihnen hatte gewonnen.
Auf der Rückfahrt nach Fulham starrte er ausdruckslos auf sein Spiegelbild im dunklen Glas und fragte sich mit einer fast schon akademischen Neugierde, was er als Nächstes tun würde. Er fühlte sich müde, zerrissen und erschöpft, als hätte ein Unwetter ihn ohne einen klaren Ausweg an einen fremden Strand gespült. Einerseits war da seine Frau. Da waren sein Zuhause, sein altes Leben und die alten Kompromisse, inzwischen seine zweite Natur. Nicht ganz Glück, aber auch nicht direkt Leid. Auf der anderen Seite war Ehrlichkeit. Rohe, schmerzliche Ehrlichkeit. Und alle Konsequenzen, die damit einhergingen.
Rupert fuhr sich müde über das Gesicht und betrachtete seine verschwommenen, unsicheren Gesichtszüge in der Fensterscheibe. Er wollte weder ehrlich noch unehrlich sein. Er wollte gar nichts sein. Eine Person in einer U-Bahn, die nichts entscheiden musste, nichts zu tun hatte, außer dem Fahrgeräusch der Bahn zu lauschen und die unbekümmerten Gesichter anderer Passagiere zu beobachten, die Bücher und Zeitschriften lasen.
Aber schließlich erreichte der Zug seine Haltestelle. Und wie ein Roboter griff er nach seiner Aktentasche, erhob sich und trat auf den Bahnsteig. Er folgte all den anderen Pendlern die Treppe hinauf in den dunklen Winterabend hinaus. Eine vertraute Prozession bewegte sich die Hauptstraße entlang, verkleinerte sich, je öfter Leute abbogen, und Rupert folgte ihnen. Je mehr er sich seinem Zuhause näherte, umso langsamer wurde er, und als er die eigene Straße erreichte, blieb er ganz stehen und erwog einen Augenblick kehrtzumachen. Aber wohin gehen? Er konnte nirgendwo sonst hin.
Beim Öffnen des Gartentors bemerkte er erleichtert, dass im Haus kein Licht brannte. Er würde ein Bad nehmen und ein paar Drinks kippen, dann wäre sein Kopf bis zu Francescas Heimkehr vielleicht schon klarer. Vielleicht würde er ihr Allans Brief zeigen. Oder vielleicht nicht. Er griff in seiner Tasche nach dem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss, dann stockte er. Der Schlüssel passte nicht. Er zog ihn heraus, betrachtete ihn und versuchte es abermals – wieder nichts. Dann, bei genauerem Hinsehen, konnte er erkennen, dass das Schloss bearbeitet worden war. Francesca hatte es austauschen lassen. Sie hatte ihn ausgeschlossen.
Ein paar Sekunden stand er reglos da. Zitternd vor Wut und Demütigung starrte er die Tür an. »Miststück«, hörte er sich mit erstickter Stimme sagen. »Miststück.« Ein plötzliches Verlangen nach Allan überkam ihn, und er wich von der Tür zurück, die Augen tränenverschleiert.
»Alles okay?«, ertönte eine fröhliche Mädchenstimme von gegenüber. »Haben Sie sich ausgeschlossen? Wenn Sie möchten, können Sie von uns aus telefonieren!«
»Nein danke«, murmelte Rupert. Er sah das Mädchen kurz an. Sie war jung, attraktiv und sah ihn mitfühlend an – für einen Augenblick überkam ihn das Verlangen, sich an ihrer Schulter auszuweinen. Dann fiel ihm ein, dass Francesca ihn vom Haus aus beobachten könnte, und er verspürte eine leichte Panik. Rasch, unbeholfen ging er fort, die Straße hinunter. Er erreichte die Ecke und winkte ein Taxi herbei, ohne zu wissen, wohin es gehen sollte.
»Ja?«, fragte der Fahrer, als er einstieg. »Wohin möchten Sie?«
»Zu … zu …« Einen Augenblick schloss Rupert die Augen, dann öffnete er sie und schaute auf seine Uhr. »Paddington Station.«
Um sechs Uhr klingelte es an der Haustür. Isobel machte auf, und Simon stand davor, einen großen Blumenstrauß in der Hand.
»Oh, du bist es«, sagte sie unfreundlich. »Was willst du?«
»Ich möchte zu Milly.«
»Sie ist nicht da.«
»Ich weiß«, meinte er besorgt. Simon wirkte herausgeputzt, fand Isobel, wie ein altmodischer Freier. Beinahe hätte sie bei seinem Anblick lächeln müssen. »Ich wollte mich nach der Adresse ihrer Patentante erkundigen.«
»Du hättest anrufen können«, bemerkte Isobel unerbittlich. »Dann hätte ich nicht extra an die Tür gehen müssen.«
»Es war dauernd besetzt.«
»Oh.« Isobel verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen, nicht bereit, ihn gehen zu lassen. »Na, sind wir schon von unserem hohen Ross gestiegen?«
»Halt einfach den Mund, Isobel, und gib mir die Adresse«, erwiderte Simon gereizt.
»Tja, ich weiß nicht. Möchte Milly denn mit dir sprechen?«
»Ach, vergiss es.« Simon wandte sich um und stieg die Treppe wieder hinunter. »Ich finde sie auch allein.«
Isobel starrte ihn kurz an, dann rief sie: »Walden Street, Nummer zehn!« Simon drehte sich noch einmal um.
»Danke«, sagte er. Isobel zuckte die Achseln.
»Schon okay. Ich hoffe …« Sie hielt inne. »Du weißt schon.«
»Ja. Das hoffe ich auch.«
Esme öffnete in einem langen weißen Bademantel die Tür.
»Oh«, meinte Simon verlegen. »Verzeihung, wenn ich störe. Ich wollte mit Milly sprechen.«
Esme musterte ihn und sagte dann: »Ich fürchte, sie schläft. Sie hat heute Mittag nämlich reichlich getrunken. Ich werde sie wohl nicht wecken können.«
»Oh.« Simon trat von einem Fuß auf den anderen. »Tja … sagen Sie ihr bitte einfach, ich sei vorbeigekommen. Und geben Sie ihr diese hier.« Er reichte Esme die Blumen, die sie mit leichtem Entsetzen betrachtete.
»Ich richte es aus. Auf Wiedersehen.«
»Vielleicht könnte sie mich anrufen. Wenn sie wach ist.«
»Vielleicht«, sagte Esme. »Das liegt bei ihr.«
»Natürlich.« Simon errötete leicht. »Nun, danke.«
»Auf Wiedersehen.« Esme schloss die Tür. Einen Augenblick sah sie auf die Blumen, dann ging sie in die Küche und warf sie in den Abfalleimer. Sie ging hoch und klopfte an Millys Tür.
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