»Wer war das?«, fragte Milly und sah auf. Sie lag auf einem Massagetisch, und Esmes Kosmetikerin rieb ihr ein Gesichtsöl in die Wangen.
»Ein Vertreter«, antwortete Esme aalglatt. »Wollte mir ein paar Staubtücher andrehen.«
»Oh, solche Typen kommen zu uns auch immer.« Milly legte sich wieder hin. »Und immer unpassend.«
Esme lächelte sie an. »Wie war deine Massage?«
»Herrlich«, sagte Milly.
»Gut.« Esme schlenderte zum Fenster, tippte sich ein paarmal auf die Zähne und wandte sich dann um.
»Weißt du, ich finde, wir sollten verreisen. Eigentlich hätte ich schon früher darauf kommen können. Du wirst morgen ja wohl nicht in Bath sein wollen, oder?«
»Eigentlich nicht«, sagte Milly. »Andererseits … will ich eigentlich überhaupt nirgends sein.« Unvermittelt verzog sie ihr Gesicht, und in ihre Augenwinkel traten Tränen. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich heiser bei der Kosmetikerin.
»Wir fahren nach Wales«, verkündete Esme. »Ich kenne da einen kleinen Ort in den Bergen. Sagenhafte Aussicht und jeden Abend Lammbraten. Na, wie klingt das?«
Milly schwieg. Die Kosmetikerin tupfte geziert mit einer gelben Flüssigkeit aus einer goldenen Flasche die Tränenspuren fort.
»Der morgige Tag wird schwierig«, sagte Esme sanft. »Aber wir schaffen das. Und danach …« Sie kam und nahm Millys Hand. »Denk doch bloß nach, Milly. Du hast eine Chance erhalten, die kaum eine Frau erhält. Du kannst einen Neuanfang machen. Du kannst dein Leben nach deinen Wünschen gestalten.«
»Du hast recht.« Milly starrte an die Decke. »Nach meinen Wünschen.«
»Die Welt gehört dir! Man stelle sich vor, dass du drauf und dran warst, Mrs. Pinnacle zu werden!« Ein Anflug von Verachtung schlich sich in Esmes Stimme. »Schatz, das war ein knappes Entkommen. Rückblickend wirst du mir dankbar sein, Milly. Wirklich!«
»Das bin ich jetzt schon.« Milly drehte den Kopf und sah Esme an. »Was hätte ich bloß ohne dich getan!«
»So ist’s recht!« Esme tätschelte Milly die Hand. »Jetzt leg dich einfach zurück und genieße den Rest deiner Sitzung – ich packe inzwischen den Wagen.«
Als James an diesem Abend heimkam, war das Haus nur schwach beleuchtet und ungewohnt still. Er hängte seinen Mantel auf und schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse, dann öffnete er geräuschlos die Küchentür. Auf dem Tisch herrschte noch immer ein wildes Durcheinander aus Adress- und Telefonbüchern, Namenslisten, Broschüren und Kaffeetassen; Olivia saß mit hängenden Schultern in der trüben Stille.
Einige Augenblicke bemerkte sie ihn nicht. Dann, als hätte er gesprochen, hob sie den Kopf. Sie schaute ihn mit ängstlichen Augen an, sah dann rasch wieder fort und hob die Hände abwehrend vors Gesicht. James, der sich wie ein Schuft vorkam, trat unbeholfen vor.
»Na?« Er stellte seine Aktentasche auf dem Stuhl ab. »Alles erledigt?« Er blickte sich um. »Du musst einen höllischen Tag hinter dir haben!«
»War gar nicht so schlimm«, erwiderte Olivia heiser. »Isobel war eine große Hilfe. Wir beide …« Sie brach ab. »Und dein Tag? Isobel hat mir erzählt, dass du Probleme in der Firma hast. Das … das habe ich gar nicht mitbekommen. Tut mir leid.«
»Wie solltest du auch. Ich hab’s dir ja nicht erzählt.«
»Erzähl’s mir jetzt.«
»Nicht jetzt«, meinte James matt. »Vielleicht später.«
»Ja, später«, sagte Olivia mit unsicherer Stimme. »Natürlich.« James sah sie an und entdeckte zu seiner Bestürzung Angst in ihren Augen. »Komm, ich mach dir eine Tasse Tee«, sagte sie.
»Danke«, erwiderte James. »Olivia …«
»Geht ganz schnell!« Sie erhob sich eilig, blieb dabei mit dem Ärmel an der Tischkante hängen und riss sich los, als wolle sie verzweifelt von ihm wegkommen, zur Spüle, zum Wasserkessel, vertrauten, unbelebten Gegenständen. James setzte sich an den Tisch und griff nach dem roten Buch. Er fing an, darin zu blättern. Seite für Seite voll Listen, Gedanken, Erinnerungshilfen, ja sogar kleiner Skizzen. Der Entwurf, wie ihm aufging, für etwas wirklich Spektakuläres.
»Schwäne«, sagte er, den Blick auf einen angekreuzten Eintrag gerichtet. »Du hattest doch nicht wirklich vor, für das Fest lebendige Schwäne zu mieten?«
»Schwäne aus Eis.« Olivias Gesicht erhellte sich ein wenig. »Sie sollten mit …« Sie brach ab. »Ach, egal.«
»Na, nun sag schon!« Es entstand eine Pause.
»Mit Austern gefüllt sein.«
»Ich mag Austern.«
»Ich weiß.« Mit ungeschickten Händen nahm sie die Teekanne, drehte sich, um sie auf den Tisch zu stellen, und rutschte dabei aus. Die Teekanne zerbrach unter lautem Geklirr auf den Schieferkacheln, und Olivia stieß einen Schrei aus.
»Olivia?« James sprang auf. »Alles in Ordnung?«
Porzellanscherben lagen in einer Teepfütze auf dem Boden; zwischen den Kacheln strömten Teeflüsschen auf ihn zu. Das gelbgeränderte Auge einer Ente starrte vorwurfsvoll zu ihm hoch.
»Sie ist kaputt!«, jammerte Olivia. »Dabei hatten wir diese Teekanne zweiunddreißig Jahre!« Sie ging in die Knie, hob eine Henkelscherbe auf und starrte sie ungläubig an.
»Wir kaufen uns eine neue.«
»Ich möchte keine neue«, erwiderte Olivia mit bebender Stimme. »Ich möchte die alte. Ich möchte …« Unvermittelt brach sie ab und wandte sich zu James um. »Du willst mich verlassen, nicht, James?«
»Was?« James starrte sie schockiert an.
»Du willst mich verlassen«, wiederholte Olivia ruhig. Sie sah auf die Teekannenscherbe und umklammerte sie fester. »Du willst ein neues Leben anfangen. Ein neues, aufregendes Leben.«
Kurze Zeit herrschte Stille, dann begriff James und atmete scharf aus.
»Du hast mich gehört.« Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Du hast mich gehört . Mir war nicht klar …«
»Ja, ich habe dich gehört«, erwiderte Olivia, ohne aufzusehen. »Das hast du doch auch gewollt, oder?«
»Olivia, ich wollte nicht …«
»Ich nehme an, du wolltest warten, bis die Hochzeit vorbei ist«, schnitt Olivia ihm das Wort ab, die das Teekannenstück immer wieder herumdrehte. »Vermutlich wolltest du den freudigen Anlass nicht zerstören. Nun, das ist auch so geschehen. Du brauchst also nicht länger zu warten. Du kannst gehen.« James blickte sie an.
»Du möchtest, dass ich gehe?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Olivias Stimme wurde eine Spur rauer, den Kopf hielt sie weiterhin gesenkt. Lange Zeit herrschte Stille. Auf dem Boden kam das letzte braune Flüsschen Tee zum Stillstand.
»Das Problem in der Firma«, sagte James plötzlich und ging zum Fenster. »Das Problem, von dem Isobel gesprochen hat. Die Firma wird umstrukturiert. Drei der Abteilungen werden nach Edinburgh verlegt. Man hat mich gefragt, ob ich umziehen wollte. Und ich habe gesagt …« Er drehte sich zu ihr um. »Ich habe gesagt, ich würde darüber nachdenken.« Olivia sah auf.
»Davon hast du mir nichts erzählt.«
»Nein«, sagte James trotzig. »Habe ich nicht. Deine Antwort war mir klar.«
»So? Wie schlau von dir!«
»Du bist hier verwurzelt, Olivia. Hier hast du deine Arbeit und deine Freundinnen. Ich wusste, dass du das alles nicht verlassen willst. Aber ich hatte einfach das Gefühl, ich bräuchte etwas Neues!« Ein schmerzlicher Zug erschien auf James’ Gesicht. »Kannst du das verstehen? Hast du nie mal fliehen und neu anfangen wollen? Ich dachte, eine neue Stadt wäre die Antwort auf mein Unbehagen. Ein neuer Ausblick in der Früh. Eine andere Luft zum Atmen.«
Stille.
»Verstehe«, sagte Olivia schließlich mit brüchiger Stimme. »Na dann, ab mit dir. Ich will dich nicht aufhalten. Ich helf dir beim Packen, soll ich?«
»Olivia …«
Читать дальше