»Vergiss nicht, mir eine Ansichtskarte zu schicken.«
»Olivia, komm, sei nicht so!«
»Wie, so? Wie meinst du denn, soll ich sonst reagieren? Immerhin planst du, mich zu verlassen!«
»Nun, was hätte ich denn tun sollen?«, entgegnete James zornig. »Auf der Stelle absagen? Mich für weitere zwanzig Jahre Bath festlegen?«
»Nein!«, schrie Olivia, in deren Augen plötzlich Tränen glitzerten. »Du hättest mich bitten sollen mitzukommen. Ich bin deine Frau, James. Du hättest mich darum bitten sollen!«
»Was hätte das gebracht? Du hättest gesagt …«
»Du weißt doch gar nicht, was ich gesagt hätte!« Olivias Stimme bebte, und sie reckte ihr Kinn. »Du weißt nicht, was ich gesagt hätte, James. Und du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, es herauszufinden.«
»Ich …« James hielt inne.
»Du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, es herauszufinden«, wiederholte Olivia, und ein Anflug von Verachtung schlich sich in ihre Stimme.
Lange Zeit herrschte Stille.
»Wie wäre deine Antwort ausgefallen?«, wollte James schließlich wissen. »Wenn ich dich gefragt hätte?« Er versuchte, Olivias Blick aufzufangen, aber sie starrte auf die Porzellanscherbe, die sie noch immer in den Händen hielt, und ihrer Miene war nichts abzulesen.
Es klingelte an der Tür. Keiner der beiden rührte sich.
»Was hättest du geantwortet, Olivia?«, fragte James.
»Ich weiß nicht«, sagte Olivia schließlich. Sie legte die Kannenscherbe auf den Tisch und sah ihn an. »Vermutlich hätte ich dich gefragt, ob du mit dem Leben hier wirklich so unzufrieden bist. Ich hätte dich gefragt, ob du wirklich glaubst, eine neue Stadt würde all deine Probleme lösen. Und wenn du das bejaht hättest …« Wieder klingelte es an der Tür, laut und beharrlich, und sie brach ab. »Geh mal lieber hin.« James starrte sie eine kurze Weile an, dann erhob er sich.
Er ging in die Diele, öffnete die Tür und machte dann vor Überraschung einen Schritt zurück. Alexander stand an der Türschwelle – unrasiert, umgeben von Taschen, mit argwöhnischem Blick.
»Hören Sie«, sagte er, als er James sah. »Es tut mir leid. Wirklich. Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte das alles nicht auslösen.«
»Das spielt ja jetzt wohl keine Rolle mehr, oder?«, erwiderte James matt. »Der Schaden ist angerichtet. Ich an Ihrer Stelle würde einfach kehrtmachen und gehen.«
»Für mich spielt es eine Rolle. Außerdem …« Er machte eine Pause. »Außerdem habe ich noch immer Sachen hier. In meinem Zimmer. Ihre Tochter hat mich rausgeschmissen, ehe ich sie holen konnte.«
»Verstehe. Na, dann kommen Sie mal besser rein.«
Vorsichtig betrat Alexander das Haus. Er warf einen Blick auf die Hochzeitskuchenschachteln und zog eine Grimasse.
»Ist Milly da?«, erkundigte er sich.
»Nein. Sie ist bei ihrer Patentante.«
»Geht’s ihr einigermaßen?«
»Was glauben Sie denn?« James verschränkte die Arme. Alexander zuckte zusammen.
»Hören Sie, es war doch nicht meine Schuld!«
»Wie meinen Sie das, es war nicht Ihre Schuld!« Olivia erschien mit empörter Miene an der Küchentür. »Milly hat uns erzählt, wie Sie sie aufgezogen haben. Wie Sie ihr gedroht haben. Sie sind nichts weiter als ein mieser kleiner Fiesling!«
»Na, jetzt machen Sie mal halblang! Selbst ist sie ja wohl auch keine Heilige!«
»Alexander, vielleicht haben Sie ja gedacht, Sie würden der Welt einen Dienst erweisen, wenn Sie sie entlarven«, sagte James. »Vielleicht dachten Sie, Sie täten Ihre Pflicht. Aber Sie hätten sich zuerst an uns oder Simon wenden können, ehe Sie den Pfarrer informieren.«
»Herrgott noch mal, ich wollte sie nicht entlarven«, erwiderte Alexander ungeduldig. »Ich wollte sie bloß damit aufziehen.«
»Aufziehen?«
»Sie ein bisschen necken. Sie wissen schon. Und mehr habe ich auch nicht getan. Ich habe dem Pfarrer nichts erzählt! Warum sollte ich das?«
»Wer weiß schon, was in Ihrem schmutzigen kleinen Kopf vorgeht«, schimpfte Olivia.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mir eigentlich die Mühe mache«, sagte Alexander. »Sie glauben mir ja eh nicht. Aber ich hab das nicht getan, okay? Warum sollte ich Millys Hochzeit zerstören? Schließlich bezahlen Sie mich dafür, den Scheiß zu fotografieren! Was hätte ich also davon?«
Stille trat ein. James sah zu Olivia.
»Ich weiß ja nicht mal, wie der Pfarrer heißt.« Alexander seufzte. »Hören Sie, ich habe versucht, es Isobel zu erklären, und sie wollte nicht hören, und nun versuche ich, es Ihnen zu erklären, und Sie hören auch nicht zu. Aber es ist wahr. Ich habe keiner Menschenseele von Milly erzählt. Wirklich nicht. Himmel, meinetwegen könnte sie sechs Ehemänner haben!«
»Na gut.« James atmete scharf aus. »Na gut, aber wenn Sie nichts verraten haben, wer dann?«
»Weiß der Himmel. Wer weiß denn noch davon?«
Schweigen.
»Sie hat es Esme erzählt«, meinte James schließlich. Er und Olivia sahen einander an. »Sie hat es Esme erzählt.«
Isobel saß in einer entlegenen Ecke der Auffahrt zur Pinnacle Hall und betrachtete durch ihre Windschutzscheibe Millys Zelt, das hinter der Hausecke gerade eben sichtbar war. Schon seit einer halben Stunde saß sie so da und sammelte still ihre Gedanken, schärfte ihre Konzentration wie für ein Examen. Sie würde Harry sagen, was sie zu sagen hatte, würde so wenig Einwände wie möglich dulden, dann gehen. Sie wäre freundlich, aber bestimmt. Wenn er ihren Vorschlag ablehnte, würde sie … Isobels Gedanken gerieten ins Stocken. Einen solch vernünftigen Plan konnte er nicht ablehnen. Unmöglich.
Sie blickte auf ihre Hände, die von der Schwangerschaft offenbar schon angeschwollen waren. Allein das Wort ließ sie wie einen Teenager erschauern. Schwangerschaft, so hatte man ihnen in der Schule beigebracht, kam einer Atombombe gleich – sie zerstörte alles, was ihr in den Weg kam, und das Leben, das ihre Opfer danach führten, war kaum noch lebenswert. Sie zerstörte Karrieren, Beziehungen, das Glück. Das Risiko war es einfach nicht wert, hatten die Lehrerinnen gepredigt, und die Schülerinnen der Oberstufe hatten gekichert und die Nummern von Abtreibungskliniken weitergereicht. Isobel schloss die Augen. Vielleicht hatten ihre Lehrerinnen recht. Ohne diese Schwangerschaft wäre ihre Beziehung zu Harry vielleicht zu etwas mehr als dem einen oder anderen Stelldichein herangereift. Allmählich war der Wunsch in ihr erwacht, öfter mit ihm zusammen zu sein, Augenblicke der Freude und des Leids mit ihm zu teilen, beim Aufwachen seine Stimme zu hören. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie ihn liebte.
Aber jetzt war da das Baby. Ein neues Element, eine neue Gangart: ein neuer Druck auf sie beide. Das Baby zu behalten hieße, Harrys Wünsche mit Füßen zu treten und das Ende ihrer Beziehung heraufzubeschwören. Und doch würde es sie zerstören, etwas anderes zu tun.
Mit blutendem Herzen griff sie in ihre Handtasche und kämmte sich noch einmal das Haar, dann öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Es war überraschend mild und windig, fast frühlingshaft. Ruhig marschierte sie über den Kies zu der großen Eingangstür, ausnahmsweise einmal ohne Angst haben zu müssen, argwöhnisch beobachtet zu werden. Heute hatte sie allen Grund zu kommen.
Sie klingelte an der Tür und lächelte das rothaarige Mädchen an, das aufmachte.
»Ich hätte gern mit Harry Pinnacle gesprochen, bitte. Ich bin Isobel Havill. Die Schwester von Milly Havill.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte das Mädchen in nicht sehr freundlichem Ton. »Ich nehme an, es geht um die Hochzeit? Oder, besser gesagt, um die Hochzeit, die nun nicht stattfindet?« Sie starrte Isobel mit hervortretenden Augen an, als wäre alles ihre Schuld, und Isobel fragte sich erstmals, was die Leute jetzt wohl von Milly halten mochten.
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