Als die beiden um die Ecke brausten, machte sich Isobel vor, direkt nach Hause gehen zu wollen. Aber der Gedanke, in die klaustrophobische, traurige Atmosphäre der Küche zurückzukehren, bereitete ihr Unbehagen; sie wollte auch keine weiteren peinlichen Telefonate mit neugierigen Fremden führen. Sie wollte an der frischen Luft bleiben, sich die Beine vertreten und das Gefühl genießen, kein Telefon am Ohr klemmen zu haben.
Es kam ihr vor, als täte sie etwas ähnlich Unverantwortliches wie die Schule zu schwänzen, als sie flott Richtung Stadt marschierte. Zunächst ohne Ziel, genoss sie einfach nur das Gefühl des Laufens, die Leichtigkeit ihrer Arme, die hin und her schwangen. Dann, als ihr unvermittelt ein Gedanke kam, blieb sie stehen und bog, getrieben von einer – zugegebenermaßen – makabren Neugierde, von der Hauptstraße ab, in Richtung St. Edward’s Church.
Beim Betreten der blumengeschmückten Kirche rechnete sie fast damit, auf der Orgel Hochzeitsklänge zu hören. Die Kirchenbänke waren leer, der Altar glänzte hell. Langsam schritt sie den Mittelgang entlang und stellte sich die Kirche dabei voller glücklicher, erwartungsvoller Gesichter vor, malte sich aus, wie es gewesen wäre, in einem Brautjungfernkleid hinter Milly einherzuschreiten und zu beobachten, wie ihre Schwester das alte Gelöbnis ablegte, das jeder kannte und liebte.
Kurz vor dem Altar blieb sie stehen und bemerkte einen Stapel weißer, übrig gebliebener Gottesdienstprogramme am Ende einer Bankreihe. Traurig nahm sie sich eines – dann, als sie die beiden Namen auf dem Titelblatt las, zwinkerte sie überrascht. Eleanor und Giles. Wer zum Teufel waren Eleanor und Giles? Hatten die sich etwa einfach rücksichtslos hineingedrängt?
»Verdammte Parasiten!«, sagte sie laut.
»Wie bitte?«, ertönte eine männliche Stimme hinter ihr, und sie fuhr herum. Ein junger Mann in einem Talar kam den Gang entlang auf sie zu.
»Arbeiten Sie hier?«, erkundigte sich Isobel.
»Ja«, erwiderte der junge Mann.
»Tja, guten Tag. Ich bin Milly Havills Schwester.«
»Ah ja«, sagte der Priester verlegen. »Wie schade. Die Geschichte hat uns allen sehr leidgetan.«
»So? Und dann? Haben Sie gedacht, Sie könnten Millys teuren Blumenschmuck genausogut für andere Zwecke nutzen?«
»Wie meinen Sie das?« Isobel deutete auf die Programme.
»Wer sind Eleanor und Giles, verflixt noch mal? Wie kommt es, dass sie Millys Hochzeitstag bekommen haben?«
»Aber das ist doch gar nicht der Fall«, erwiderte der Vikar nervös. »Die beiden heiraten am Nachmittag. Den Termin haben sie schon vor einem Jahr ausgemacht.«
»Oh.« Isobel blickte auf das Programm und legte es dann weg. »Nun, dann. Hoffentlich wird es für sie ein glücklicher Tag.«
»Das Ganze tut mir wirklich sehr leid«, meinte der Vikar unbeholfen. »Vielleicht wird Ihre Schwester ja zu einem späteren Zeitpunkt heiraten können. Wenn sie alles geklärt hat.«
»Das wäre schön. Aber ich bezweifle es.« Sie blickte sich noch einmal in der Kirche um und wandte sich dann zum Gehen.
»Ich wollte gerade absperren.« Der Vikar eilte hinter ihr her. »Eine Vorsichtsmaßnahme, die wir oft ergreifen, wenn wir Blumenschmuck in der Kirche haben. Sie wären überrascht, was die Leute heutzutage so alles stehlen.«
»Das glaube ich.« Isobel blieb bei einer Säule stehen, pflückte sich eine einzelne weiße Lilie aus einem rankenden Blumenarrangement und atmete den süßen Duft ein. »Es wäre wirklich eine schöne Hochzeit gewesen«, sagte sie traurig. »Und nun ist alles kaputt. Ihr wisst ja gar nicht, was ihr da getan habt.« Der junge Vikar machte ein etwas beleidigtes Gesicht.
»Wenn ich es richtig verstanden habe«, begann er, »war dies ein Fall von versuchter Bigamie.«
»Ja«, sagte Isobel. »Aber keiner hätte etwas davon gewusst. Wenn Ihr Pfarrer Lytton nur ein Auge zugedrückt und geschwiegen hätte …«
»Das Paar hätte es gewusst!«, versetzte der Vikar. »Gott hätte es gewusst!«
»Tja«, erwiderte Isobel knapp. »Vielleicht hätte es ihm nichts ausgemacht.«
Mit gesenktem Kopf marschierte sie aus der Kirche und lief dabei direkt in jemanden hinein.
»Verzeihung!« Sie sah hoch und versteifte sich. Harry Pinnacle stand vor ihr, in einem marineblauen Kaschmirmantel und einem hellroten Schal.
»Guten Tag, Isobel«, grüßte er sie. Er schaute über die Schulter zum Vikar, der ihr nach draußen gefolgt war. »Furchtbar, das Ganze.«
»Ja. Schrecklich.«
»Ich bin unterwegs zu einem Lunch mit deinem Vater.«
»Ja«, erwiderte Isobel. »Er hat’s erwähnt.«
Sie hörten Gerassel, als der Vikar die Tür zusperrte. Mit einem Mal waren sie allein.
»Nun, ich muss los. Nett, dich getroffen zu haben.«
»Warte einen Augenblick«, bat Harry.
»Ich bin etwas in Eile.« Isobel wandte sich zum Gehen.
»Das ist mir egal.« Harry packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. »Isobel, warum hast du auf keine meiner Nachrichten reagiert?«
»Lass mich in Ruhe.« Isobel versuchte, sich aus seinem Griff freizumachen.
»Isobel! Ich möchte mit dir reden!«
»Ich kann nicht.« Isobels Gesicht verschloss sich. »Harry, ich … kann einfach nicht.«
Lange Stille. Dann ließ Harry ihren Arm fallen.
»Schön. Wie du willst.«
»Wunderbar«, erwiderte Isobel mit ausdrucksloser Stimme. Und ohne ihn anzusehen, steckte sie die Hände in die Taschen und marschierte davon.
Als James in das Pear and Goose kam, saß Harry mit einem Glas Bier in der Hand an der Bar. Es war ein kleiner Pub im Zentrum von Bath, gesteckt voll mit Touristen.
»Schön, dich zu sehen, James«, sagte er und erhob sich, um James die Hand zu schütteln. »Warte, ich besorg dir ein Bier.«
»Danke«, sagte James. Beide beobachteten wortlos, wie der Mann an der Bar ein Bier einschenkte, und James fiel auf, dass sie beide sich zum ersten Mal allein trafen.
»Zum Wohl!« Harry hob sein Glas.
»Zum Wohl.«
»Setzen wir uns doch.« Harry deutete auf einen Tisch in der Ecke. »Da drüben haben wir mehr Ruhe.«
»Ja.« James räusperte sich. »Ich nehme an, du willst mit mir über die Modalitäten der Hochzeit sprechen.«
»Wieso?« Harry machte ein überraschtes Gesicht. »Gibt’s da Probleme? Ich dachte, meine Leute würden das zusammen mit Olivia ins Reine bringen?«
»Ich meinte die finanzielle Seite«, erwiderte James steif. »Millys kleine Enthüllung hat dich ein Vermögen gekostet.«
Harry winkte ab. »Das ist doch unwichtig.«
»Nein, ist es nicht. Ich fürchte, ich habe nicht die Mittel, dir alles zurückzuzahlen. Aber falls wir zu einer Art Einigung kommen können …«
»James«, unterbrach ihn Harry. »Ich habe dich nicht hierher gebeten, um mit dir über Geld zu sprechen. Ich dachte bloß, du würdest vielleicht gern einen mit mir heben, okay?«
»Okay«, sagte James überrascht. »Ja, natürlich.«
»Dann setzen wir uns doch hin und trinken was, verflixt noch mal.«
Sie nahmen an dem Ecktisch Platz. Harry machte eine Tüte Chips auf und bot James welche an.
»Wie geht’s Milly?«, erkundigte er sich. »Alles in Ordnung?«
»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau. Sie ist bei ihrer Patentante. Wie geht’s Simon?«
»Dummer Junge.« Harry knabberte die Chips. »Heute Morgen habe ich ihm vorgeworfen, er sei ein verwöhnter Bengel.«
»Oh«, sagte James, unsicher, was er sagen sollte.
»Kaum taucht ein Problem auf, schon sucht er das Weite. Der erste Haken, und er schmeißt das Handtuch. Kein Wunder, dass er geschäftlich gescheitert ist.«
»Bist du nicht ein bisschen hart?«, protestierte James. »Es war ein Riesenschock für ihn. Für uns alle. Uns fällt es schon schwer genug, damit umzugehen, was muss Simon da erst empfinden …« Er schüttelte den Kopf.
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