»Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Stunde«, sagte ich.»Ich muss dringend mit Inspektor Florián sprechen. Es handelt sich um einen Notfall. Er hat mir diese Nummer gegeben, für den Fall, dass…«
»Wer sind Sie?«
»Óscar Drai.«
»Óscar wie viel?«
Geduldig musste ich ihm meinen Namen buchstabieren.
»Einen Augenblick. Ich weiß nicht, ob Florián zu Hause ist. Ich sehe kein Licht. Können Sie warten?«
Ich schaute zum Wirt hinüber, der unter dem würdevollen Blick des Duce in martialischem Rhythmus Gläser trocknete.
»Ja«, sagte ich kühn.
Das Warten wurde unerträglich. Der Wirt starrte mich unablässig an wie einen entflohenen Sträfling. Versuchsweise lächelte ich ihm zu. Er reagierte nicht.
»Könnten Sie mir einen Milchkaffee machen?«, fragte ich.»Ich bin durchgefroren.«
»Nicht vor fünf.«
»Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?«
»Bis fünf dauert es noch. Bist du sicher, dass du die Polizei angerufen hast?«
»Die Guardia Civil, um genau zu sein«, improvisierte ich.
Endlich hörte ich Floriáns Stimme. Sie klang wach und aufmerksam.
»Óscar? Wo bist du?«
So schnell ich konnte, schilderte ich ihm das Wesentliche. Als ich das mit dem Abwassertunnel erzählte, spürte ich, wie seine Anspannung wuchs.
»Hör mir gut zu, Óscar. Ich will, dass du dort, wo du bist, auf mich wartest und dich nicht wegrührst, bis ich komme. In einer Sekunde nehm ich ein Taxi. Wenn etwas passiert, läufst du weg und läufst und läufst, bis du zum Präsidium in der Vía Layetana kommst. Dort fragst du nach Mendoza. Er kennt mich und ist eine Vertrauensperson. Aber was auch geschieht, hörst du?, was auch geschieht, du gehst auf keinen Fall in die Kanalisation runter. Ist das klar?«
»Glasklar.«
»In einer Minute bin ich da.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Macht sechzig Peseten«, sagte der Wirt hinter mir unverzüglich.»Nachttarif.«
»Ich zahle um fünf, General«, antwortete ich träge.
Die Säcke unter seinen Augen verfärbten sich weinrot.
»Pass auf, du eingebildeter Pinkel, ich polier dir gleich die Fresse, ja?«, drohte er zornig.
Ich sauste davon, bevor er mit seinem Bereitschaftsknüppel hinter der Theke hervorkommen konnte. Beim Maskenladen würde ich auf Inspektor Florián warten. Das konnte nicht lange dauern, dachte ich.
Von der Kathedrale schlug es vier. Die Anzeichen der Müdigkeit begannen mich zu umzingeln wie hungrige Wölfe. Ich machte kleine Kreise, um Kälte und Erschöpfung zu bekämpfen. Kurze Zeit später vernahm ich Schritte auf dem Straßenpflaster. Ich drehte mich um und wollte Florián begrüßen, doch die Gestalt, die ich erblickte, hatte nichts mit dem alten Polizisten gemein. Es war eine Frau. Instinktiv versteckte ich mich, voller Angst, die Dame in Schwarz sei mich holen gekommen. Auf der Straße zeichnete sich ihr Schatten ab, und die Frau ging an mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Es war María, Dr. Shelleys Tochter.
Sie ging auf die Schachtmündung zu, beugte sich vor und schaute hinunter. In der Hand hielt sie ein Fläschchen. Ihr Gesicht leuchtete verklärt im Mondlicht. Sie lächelte. Sogleich wurde mir klar, dass sich da etwas Ungutes abspielte, dass etwas nicht stimmte. Einen Augenblick dachte ich sogar, sie befinde sich in irgendeiner Trance und sei hierher schlafgewandelt. Diese absurde Hypothese war mir angenehmer, als andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Ich wollte auf sie zugehen, sie bei ihrem Namen rufen, irgendetwas. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Kaum hatte ich einen ersten Schritt getan, wandte sie sich mit katzenhafter Behändigkeit um, als hätte sie meine Anwesenheit in der Luft gewittert. Ihre Augen glänzten in der Gasse, und ihr zur Grimasse verzerrtes Gesicht ließ mir das Blut in den Adern gerinnen.
»Geh«, flüsterte sie mit nicht wiederzuerkennender Stimme.
»María?«, stammelte ich verwirrt.
Eine Sekunde später sprang sie in den Tunnel hinunter. Ich lief zum Rand, in der Erwartung, ihren zerschellten Körper zu erblicken. Ein Mondstrahl zog flüchtig über den Schacht. Unten leuchtete Marías Gesicht.
»María, warten Sie!«, rief ich.
So rasch ich konnte, kletterte ich die Sprossen hinab. Nach zwei Metern umfing mich penetranter Gestank. Die helle Öffnung über mir verkleinerte sich allmählich. Ich suchte nach einer der Streichholzschachteln und steckte eines an. Was ich dann erblickte, war gespenstisch.
Ein runder Tunnel verlor sich in der Schwärze. Feuchtigkeit und Fäulnis. Rattengekreisch. Und das endlose Echo des Tunnellabyrinths unter der Stadt. Eine schmutzige Inschrift an der Wand lautete:
SGAB /1881
SAMMELKANAL SEKTOR IV / NIVEAU 2 - ABSCHNITT 66
Auf der anderen Seite des Tunnels war die Mauer eingebrochen. Der Untergrund hatte einen Teil des Sammelkanals zugeschüttet. Eine über die andere geschichtet, konnte man die ehemaligen Ebenen der Stadt erkennen.
Ich betrachtete die Leichen alter Barcelonas, auf denen sich die neue Stadt erhob. Der Schauplatz, an dem Sentís der Tod ereilt hatte. Ich steckte ein weiteres Streichholz an. Den Ekel, der mir im Hals hochstieg, unterdrückend, folgte ich den Schritten einige Meter weiter.
»María?«
Meine Stimme wurde zu einem geisterhaften Echo, das mich schaudern ließ, so dass ich lieber schwieg. Ich sah Dutzende winziger roter Punkte sich wie Insekten auf einem Teich bewegen. Ratten. Die Streichholzflamme, die ich immer wieder erneuerte, hielt sie auf vorsichtige Distanz.
Ich zögerte, ob ich weitergehen sollte oder nicht, als ich in der Ferne eine Stimme hörte. Zum letzten Mal schaute ich zur Öffnung in der Straße hinauf. Keine Spur von Florián. Wieder hörte ich die Stimme. Ich seufzte und machte mich auf in die Dunkelheit.
Der Tunnel, durch den ich ging, ließ mich an den Darmtrakt eines Tiers denken. Der Boden stand ganz unter Fäkalwasser. Das einzige Licht, das mir zur Verfügung stand, war das meiner Streichhölzer. Ich steckte eines am anderen an, so dass ich nie in völlige Dunkelheit gehüllt war. Je tiefer ich ins Labyrinth eindrang, desto mehr gewöhnte sich meine Nase an den Kloakengeruch. Auch stellte ich einen Temperaturanstieg fest. Bald klebte mir die Feuchtigkeit auf Haut, Kleidern und Haar.
Einige Meter weiter erkannte ich ein plumpes, auf der Mauer rot leuchtendes Kreuz. Es folgten weitere Kreuze an den Wänden. Am Boden glaubte ich etwas glitzern zu sehen. Als ich mich bückte, um es mir anzuschauen, erwies es sich als ein Foto. Ich erkannte das Bild sogleich – eines der Porträts aus dem Album des Gewächshauses. Weitere Fotos trieben herum, alle desselben Ursprungs. Einige waren zerrissen. Zwanzig Schritte weiter fand ich das Album, völlig zerfleddert. Ich ergriff es und blätterte mich durch die leeren Seiten. Es machte den Eindruck, als hätte jemand etwas gesucht und dann aus Wut, es nicht gefunden zu haben, das Album zerfetzt.
Ich befand mich auf einer Kreuzung, in einer Art Verteilerkammer oder einem Kanalzusammenfluss. Ich schaute hinauf und sah, dass sich genau da, wo ich stand, ein weiterer Schacht auftat. Ich glaubte, ein Gitter zu erkennen. Als ich ihm ein Streichholz näherte, blies ein morastiger Luftzug aus einem der Sammelkanäle die Flamme aus. In diesem Moment hörte ich, wie sich, die Wände streifend, langsam und gallertartig etwas bewegte. Ich spürte einen Schauer im Nacken. In der Dunkelheit suchte ich ein weiteres Streichholz und versuchte es anzuzünden, aber die Flamme wollte nicht brennen. Jetzt war ich sicher – etwas bewegte sich in den Tunneln, etwas Lebendiges, und zwar keine Ratten. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Der Gestank schoss mir brutal in die Nase. Endlich brannte ein Streichholz. Zuerst blendete mich die Flamme. Dann sah ich, wie mir etwas entgegenrobbte. Aus sämtlichen Tunneln. Undefinierbare Wesen krochen wie Spinnen durch die Kanäle. Das Streichholz fiel mir aus den zitternden Händen. Ich wollte loslaufen, aber meine Muskeln waren wie gelähmt.
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