Ich nahm sie bei der Hand und führte sie Stufe um Stufe zum dritten Stock. Vor Clarets Tür blieben wir stehen. Marina atmete tief durch. Dabei zitterte ihre Brust.
»Es geht mir gut, wirklich«, sagte sie, als ahnte sie meine Befürchtungen.»Los, klopf schon. Du hast mich hoffentlich nicht hergebracht, um die Nachbarn zu besuchen.«
Ich klopfte an. Die Tür bestand aus altem, solidem Holz, dick wie eine Mauer. Wieder klopfte ich. Langsam näherten sich Schritte der Schwelle. Die Tür ging auf, und Luis Claret, der Mann, der mir das Leben gerettet hatte, empfing uns.
»Kommt rein«, sagte er nur und wandte sich wieder ins Wohnungsinnere.
Wir schlossen die Tür hinter uns. Die Wohnung war dunkel und kalt. Von der Decke hing der Anstrich herunter wie Schlangenhaut. Lampen ohne Glühbirnen züchteten Spinnennester. Das Fliesenmosaik zu unseren Füßen war zerbrochen.
»Hier lang«, hörte man Clarets Stimme aus dem Inneren.
Wir folgten seiner Spur in ein nur von einem Kohlenbecken erleuchtetes Wohnzimmer. Claret saß vor den glühenden Kohlen und starrte sie schweigend an. Die Wände waren von alten Porträts bedeckt, Leuten und Gesichtern aus anderen Zeiten. Claret schaute zu uns auf. Seine Augen waren hell und durchdringend, das Haar silbern und die Haut pergamenten. Dutzende von Fältchen in seinem Gesicht zeugten vom Verstreichen der Zeit, aber trotz seines fortgeschrittenen Alters strahlte er eine solche Kraft aus, dass ihn mancher um dreißig Jahre jüngerer Mann beneidet hätte. Ein stil- und würdevoll an der Sonne gealterter Bühnengalan.
»Ich hatte keine Möglichkeit, Ihnen zu danken, dass Sie mir das Leben gerettet haben.«
»Nicht mir musst du danken. Wie habt ihr mich gefunden?«
»Inspektor Florián hat uns von Ihnen erzählt«, kam mir Marina zuvor.»Er sagte, Sie und Dr. Shelley seien die einzigen Menschen gewesen, die bis zuletzt bei Michail Kolwenik und Ewa Irinowa ausgeharrt hätten, sie hätten sie nie verlassen. Wie haben Sie Michail Kolwenik kennengelernt?«
Ein schwaches Lächeln trat auf Clarets Lippen.
»Señor Kolwenik kam während eines der schlimmsten Fröste des Jahrhunderts in diese Stadt. Einsam, hungrig und von der Kälte getrieben, suchte er im Eingang eines alten Hauses Zuflucht, um dort die Nacht zu verbringen. Er besaß nur ein paar Münzen für etwas Brot und heißen Kaffee und sonst nichts. Während er überlegte, was er tun sollte, entdeckte er, dass sich in diesem Hauseingang noch jemand befand. Ein höchstens fünf Jahre alter, in Lumpen gehüllter Junge, ein Bettler, der hier ebenso Unterschlupf gesucht hatte wie Kolwenik. Da dieser und der Junge nicht dieselbe Sprache sprachen, konnten sie sich kaum verständigen. Aber Kolwenik gab ihm lächelnd sein Geld und bedeutete ihm mit Handzeichen, er solle etwas zu essen kaufen. Der Kleine, der kaum glauben konnte, wie ihm geschah, ging eilig einen Laib Brot kaufen in einer Bäckerei auf der Plaza Real, die die ganze Nacht geöffnet war. Als er zum Hauseingang zurückkam, um das Brot mit dem Unbekannten zu teilen, sah er, wie dieser von der Polizei abgeführt wurde. Im Gefängnis wurde Kolwenik von seinen Zellengenossen brutal zusammengeschlagen. Die ganzen Tage, die er in der Gefängniskrankenstation verbrachte, wartete der Junge vor der Tür wie ein herrenloser Hund. Als Kolwenik zwei Wochen später wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, hinkte er. Der Kleine war zur Stelle, um ihn zu unterstützen. Er wurde sein Führer und schwor sich, nie diesen Mann zu verlassen, der ihm in der schlimmsten Nacht seines Lebens seine ganze Habschaft überlassen hatte. Dieser Junge war ich.«
Claret erhob sich und forderte uns auf, ihm durch einen engen Gang zu folgen, der zu einer Tür führte. Er zog einen Schlüssel hervor und schloss auf. Auf der anderen Seite befand sich eine identische Tür und zwischen den beiden eine kleine Kammer.
Es war dunkel, und Claret zündete eine Kerze an. Mit einem anderen Schlüssel öffnete er die zweite Tür. Ein Luftzug erfüllte den Gang und ließ die Flamme sirren. Marina ergriff meine Hand, während wir auf die andere Seite traten. Dort blieben wir stehen. Was sich vor unseren Augen auftat, war wie ein Märchen. Das Innere des Gran Teatro Real.
Rang um Rang zog sich bis zu der großen Kuppel hinauf. Von den Logen hingen die Samtvorhänge und bauschten sich im Leeren. Über dem endlosen, menschenleeren Parkett warteten große Kristalllüster auf elektrischen Anschluss, der nie kam. Wir befanden uns in einem Bühnenseiteneingang. Über uns erhob sich die Bühnenmaschinerie ins Endlose, ein Universum aus Vorhängen, Gerüsten, Rollen und Brücken, das sich in den Höhen verlor.
»Hier durch«, sagte Claret und führte uns.
Wir überquerten die Bühne. Im Orchestergraben schliefen einige Instrumente. Auf dem Dirigentenpult war eine von Spinnweben überzogene Partitur auf der ersten Seite aufgeschlagen. Im Parkett zog der große Teppich des Mittelgangs eine Straße nach nirgendwo. Claret ging voran bis zu einer erleuchteten Tür und hieß uns beim Eingang stehen bleiben. Marina und ich wechselten einen Blick.
Die Tür führte zu einer Künstlergarderobe. An metallenen Ständern hingen Hunderte strahlende Kleider. Eine Wand war voller Rauchglasspiegel mit Kerzenhaltern. Die andere wurde von Dutzenden alten Porträts eingenommen, die eine unbeschreiblich schöne Frau zeigten. Ewa Irinowa, die Magierin der Bühnen. Die Frau, für die Michail Kolwenik dieses Heiligtum hatte errichten lassen. Und da erblickte ich sie. Die Dame in Schwarz betrachtete sich mit verschleiertem Gesicht im Spiegel. Als sie unsere Schritte vernahm, wandte sie sich langsam um und nickte. Erst jetzt erlaubte uns Claret einzutreten. Wir gingen auf sie zu wie auf einen Geist, ebenso ängstlich wie fasziniert. Zwei Meter vor ihr blieben wir stehen. Wachsam verharrte Claret auf der Schwelle. Wieder wandte sich die Frau dem Spiegel zu und studierte ihre Erscheinung.
Auf einmal hob sie mit unbeschreiblicher Zartheit den Schleier. Die wenigen funktionierenden Glühbirnen enthüllten uns ihr Gesicht im Spiegel beziehungsweise das, was die Säure davon übriggelassen hatte. Nackter Knochen und welke Haut. Formlose Lippen, ein bloßer Schnitt in entstellten Gesichtszügen. Augen, die nie wieder würden weinen können. Einen unendlichen Moment lang ließ sie uns den Horror betrachten, den sonst der Schleier verbarg. Dann verhüllte sie ihr Gesicht und ihre Identität wieder mit derselben Zartheit, mit der sie sie offenbart hatte, und bat uns, Platz zu nehmen. Es verstrich ein langes Schweigen.
Ewa Irinowa streckte eine Hand zu Marinas Gesicht aus und liebkoste es, fuhr ihr über Wangen, Lippen, Hals. Mit zittrigen, sehnsuchtsvollen Fingern las sie ihre Schönheit und Vollkommenheit. Marina schluckte. Die Dame zog die Hand zurück, und ich konnte ihre lidlosen Augen hinter dem Schleier leuchten sehen. Erst jetzt begann sie zu sprechen und uns die Geschichte zu erzählen, die sie über dreißig Jahre lang für sich behalten hatte.
Außer auf Fotos habe ich mein Land nie kennengelernt. Alles, was ich über Russland weiß, stammt aus Erzählungen, Klatsch und Erinnerungen anderer. Ich wurde auf einem Schiff auf dem Rhein geboren, in einem von Krieg und Schrecken zerstörten Europa. Jahre später habe ich erfahren, dass mich meine Mutter schon unter dem Herzen trug, als sie allein und krank auf der Flucht vor der Revolution die russisch-polnische Grenze überschritt. Sie starb bei der Geburt. Nie habe ich ihren Namen oder den meines Vaters erfahren. Für immer vergessen, wurde sie in einem anonymen Grab am Rheinufer beerdigt. Ein Komödiantenpaar aus St. Petersburg, das sich ebenfalls auf dem Schiff befand, Sergei Glasunow und seine Zwillingsschwester Tatjana, nahm sich meiner aus Mitleid an und weil ich, wie mir Sergei viele Jahre später sagte, mit zwei verschiedenfarbigen Augen geboren wurde, was ein Glückszeichen ist.
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