»Sie sind kein Verräter, Fermín. Jeder an Ihrer Stelle hätte dasselbe getan. Sie sind mein bester Freund.«
»Ich verdiene Ihre Freundschaft nicht, Daniel. Sie und Ihr Vater haben mir das Leben gerettet, und mein Leben gehört Ihnen beiden. Was immer ich für Sie tun kann, das werde ich tun. An dem Tag, an dem Sie mich von der Straße weggeholt haben, ist Fermín Romero de Torres neu geboren worden.«
»Das ist nicht Ihr richtiger Name, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf.
»Den habe ich auf einem Plakat auf der Plaza de las Arenas gesehen. Der andere ist begraben. Der Mann, der vorher in diesen Knochen gelebt hat, ist gestorben, Daniel. In Alpträumen kehrt er manchmal zurück. Aber Sie haben mich gelehrt, ein anderer Mann zu sein, und haben mir einen Grund gegeben, noch einmal zu leben — meine Bernarda.«
»Fermín…«
»Sagen Sie nichts, Daniel. Verzeihen Sie mir einfach, wenn Sie das können.« Ich umarmte ihn schweigend und ließ ihn weinen. Die Leute sahen uns verstohlen an, und ich schaute mit blitzenden Augen zurück. Nach einer Weile beachtete man uns nicht mehr. Später, als ich ihn zu seiner Pension begleitete, fand Fermín die Stimme wieder.
»Was ich Ihnen heute erzählt habe…, die Bernarda soll das bitte…«
»Weder die Bernarda noch sonst jemand. Kein Wort, Fermín.« Mit einem Händedruck sagten wir uns auf Wiedersehen. Die ganze Nacht lag ich bei brennendem Licht wach auf meinem Bett und betrachtete meinen glänzenden Montblanc-Füllfederhalter, mit dem ich jahrelang nicht mehr geschrieben hatte und der allmählich das beste Paar Handschuhe wurde, das man je einem Einarmigen geschenkt hat. Mehr als einmal wäre ich beinahe zu den Aguilars gegangen, um mich gleichsam zu stellen, aber nach langem Nachdenken nahm ich an, am frühen Morgen in Beas Elternhaus einzudringen würde ihre Lage nicht eben verbessern. Als der Tag anbrach, kehrte mit der Müdigkeit und der Zerstreuung mein Egoismus zurück, und ich brauchte nicht lange, bis ich zur Überzeugung kam, die Zeit werde die Wunden schon heilen.Am Vormittag gab es in der Buchhandlung wenig zu tun, was ich nutzte, um im Stehen zu schlummern. Am Mittag gab ich, wie am Vorabend mit Fermín vereinbart, vor, einen Spaziergang zu machen, und Fermín sagte, er habe einen Termin in der Poliklinik, um sich einige Fäden ziehen zu lassen. Soweit ich sah, glaubte mein Vater beide Schummeleien. Der Gedanke, ihn systematisch zu belügen, trübte mir langsam das Gemüt, was ich Fermín am Vormittag auch gesagt hatte, als mein Vater rasch eine Besorgung machen ging.
»Daniel, die Beziehung zwischen Vater und Sohn gründet auf Tausenden kleiner, gütiger Lügen. Das hier ist eine weitere. Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben.« Als es soweit war, log ich abermals und machte mich auf zu Nuria Monfort, deren Berührung und Geruch noch in meinem Gedächtnis hafteten. Das Pflaster der Plaza de San Felipe Neri war von einem Schwarm Tauben eingenommen worden. Ich hatte gehofft, Nuria Monfort in Gesellschaft ihres Buches anzutreffen, doch der Platz war menschenleer. Von Dutzenden Tauben überwacht, überquerte ich ihn und sah mich dabei suchend nach dem als weiß Gott was getarnten Fermín um, vergeblich — er hatte die List nicht preisgeben mögen, die er im Kopf hatte. Ich trat ins Treppenhaus und stellte fest, daß Miquel Moliners Name noch immer am Briefkasten stand. Ich fragte mich, ob das wohl das erste Loch in Nuria Monforts Geschichte sei, auf das ich sie hinweisen könnte. Während ich im Halbdunkel die Treppe hinaufstieg, wünschte ich mir beinahe, sie nicht zu Hause anzutreffen. Nie hat man soviel Mitgefühl für einen, der lügt, wie wenn man sich in derselben Lage befindet. Auf dem Treppenabsatz des vierten Stocks blieb ich stehen, um meinen Mut zusammenzunehmen und mir irgendeinen Vorwand zur Rechtfertigung meines Besuchs auszudenken. Das Radio der Nachbarin auf der gegenüberliegenden Seite dröhnte noch immer, diesmal mit der Übertragung eines Wettbewerbs zu religiösen Fragen mit dem Titel Zum Himmel schreien, der jeden Dienstagmittag die Zuhörerschaft ganz Spaniens in Atem hielt.Als im Studio von Radio Nacional der Applaus des Publikums losbrach, trat ich entschlossen vor Nuria Monforts Tür und klingelte mehrere Sekunden lang. Ich hörte, wie sich das Echo im Innern verlor, und seufzte erleichtert auf. Schon wollte ich mich wieder davonmachen, als ich Schritte vernahm, die näher kamen, und das Guckloch in einer Andeutung von Licht aufleuchtete. Ich lächelte. Als sich der Schlüssel im Schloß drehte, holte ich tief Atem.
»Daniel«, flüsterte sie.Der blaue Rauch der Zigarette umschleierte ihr Gesicht. Die Lippen leuchteten dunkelrot und feucht und hinterließen auf dem Filter blutige Spuren. Es gibt Menschen, an die man sich erinnert, und andere, von denen man träumt. Für mich hatte Nuria Monfort die Glaubwürdigkeit einer Fata Morgana: Man stellt sie nicht in Frage, man folgt ihr einfach, bis sie sich auflöst oder einen vernichtet. Ich folgte ihr in den engen, halbdunklen Raum, wo sich ihr Schreibtisch, ihre Bücher und die Sammlung der streng ausgerichteten Bleistifte befanden.
»Ich dachte, ich würde dich nicht wiedersehen.«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.« Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Ich riß die Augen von ihrem Hals los und konzentrierte mich auf einen Feuchtigkeitsfleck an der Wand. Dann trat ich ans Fenster und warf einen raschen Blick auf den Platz. Keine Spur von Fermín. Hinter mir konnte ich Nuria Monfort atmen hören, ihren Blick spüren. Ich sprach, ohne vom Fenster wegzuschauen.
»Vor einigen Tagen hat ein guter Freund von mir herausgefunden, daß der Liegenschaftenverwalter, der für die ehemalige Wohnung der Familie Fortuny-Carax zuständig ist, die Korrespondenz an ein Postfach auf den Namen einer Anwaltskanzlei geschickt hatte, die offensichtlich nicht existiert. Derselbe Freund hat herausgefunden, daß die Person, die jahrelang die Sendungen für dieses Postfach abgeholt hatte, Ihren Namen benutzte, Señora Monfort…«
»Schweig.« Ich wandte mich um und sah, daß sie sich in die Schatten zurückzog.
»Du richtest mich, ohne mich zu kennen«, sagte sie.
»Dann helfen Sie mir, Sie kennenzulernen.«
»Wem hast du das erzählt? Wer weiß sonst noch, was du da gesagt hast?«
»Mehr Leute, als man denkt. Die Polizei folgt mir schon seit längerem.«
»Fumero?« Ich nickte. Ich hatte den Eindruck, ihre Hände zitterten.
»Du weißt nicht, was du angerichtet hast, Daniel.«
»Sagen Sie es mir«, antwortete ich mit einer Härte, die ich nicht empfand.
»Du meinst, bloß weil du über ein Buch gestolpert bist, hast du das Recht, ins Leben von Menschen einzudringen, die du nicht kennst, in Dinge, die du nicht verstehen kannst und die dich nichts angehen.«
»Jetzt gehen sie mich etwas an, ob ich will oder nicht.«
»Du weißt nicht, was du sagst.«
»Ich war im Aldaya-Haus. Ich weiß, daß sich Jorge Aldaya dort versteckt. Ich weiß, daß er es war, der Carax ermordet hat.« Sie schaute mich lange an und maß ihre Worte ab.
»Weiß das Fumero?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es wäre besser, du wüßtest es. Ist dir Fumero hierher gefolgt?« Die Wut, die in ihren Augen loderte, verbrannte mich. Ich war in der Rolle des Anklägers und Richters gekommen, aber mit jeder weiteren Minute fühlte ich mich mehr als der Schuldige.
»Ich glaube nicht. Haben Sie es gewußt? Sie haben gewußt, daß Jorge Aldaya es war, der Julián umgebracht hat und sich in diesem Haus versteckt — warum haben Sie es mir nicht gesagt?« Sie lächelte bitter.
»Du verstehst nichts, nicht wahr?«
»Ich verstehe, daß Sie gelogen haben, um den Mann zu schützen, der den ermordet hat, den Sie als Ihren Freund bezeichnen, den Mann, der dieses Verbrechen jahrelang verheimlicht hat, einen Mann, dessen einziges Ziel es ist, jede Spur von Julián Carax’ Existenz zu beseitigen, der seine Bücher verbrennt. Ich verstehe, daß Sie mich bezüglich Ihres Mannes belogen haben, der nicht im Gefängnis ist und offensichtlich auch nicht hier. Das ist es, was ich verstehe.« Nuria Monfort schüttelte langsam den Kopf.
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