»Entschuldigen Sie, Daniel. Ihr Herr Vater hat mich halt eingeladen, zum Abendessen raufzukommen, und dann bin ich so schläfrig geworden, weil Rindfleisch auf mich regelrecht narkotisierend wirkt. Ihr Vater hat mir vorgeschlagen, mich eine Weile hier hinzulegen, und gesagt, es würde Ihnen nichts ausmachen…«
»Es macht mir auch nichts aus, ich war nur sehr überrascht. Bleiben Sie hier im Bett, und kehren Sie zu Carole Lombard zurück, bestimmt erwartet sie Sie. Und schlüpfen Sie richtig unter die Decke, es ist ein Hundewetter, sonst lesen Sie noch was auf. Ich gehe ins Eßzimmer.«
Fermín nickte gefügig. Die Quetschungen in seinem Gesicht entzündeten sich immer mehr, und sein Kopf sah mit dem Zweitagebart und dem schütteren Haar aus wie eine Kokosnuß. Ich nahm eine Decke aus der Kommode und gab auch Fermín eine. Dann knipste ich das Licht aus und ging ins Eßzimmer, wo meines Vaters Lieblingssessel auf mich wartete. Ich hüllte mich in die Decke ein und kuschelte mich so gut wie möglich in den Sessel, fest davon überzeugt, daß ich kein Auge schließen würde. Der Anblick der beiden weißen Särge im Dunkeln schmerzte in meinem Kopf. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich ganz darauf, dieses Bild zu verdrängen. Dafür beschwor ich das Bild der nackten Bea auf den Decken in jenem Badezimmer bei Kerzenlicht herauf. Diesen glücklichen Bildern hingegeben, glaubte ich in der Ferne das Meer murmeln zu hören und fragte mich, ob mich der Schlaf übermannt hatte, ohne daß ich es gemerkt hatte. Vielleicht war ich mit dem Schiff unterwegs nach Tanger. Aber gleich darauf wurde mir klar, daß es nur Fermíns Schnarchen war, und einen Augenblick später erlosch die Welt. Nie in meinem ganzen Leben habe ich besser und tiefer geschlafen als in jener Nacht.
Bei Tagesanbruch goß es wie aus Kübeln, die Straßen waren überschwemmt, und der Regen trommelte wütend an die Fenster. Um halb acht klingelte das Telefon. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen sprang ich aus dem Sessel, um abzuheben. Fermín, in Schlafrock und Pantoffeln, und mein Vater, die Kaffeekanne in der Hand, wechselten einen dieser Blicke, die allmählich zur Gewohnheit wurden.
»Bea?« flüsterte ich mit dem Rücken zu den andern in den Hörer.Ich glaubte einen Seufzer in der Leitung zu vernehmen.
»Bea, bist du es?« Ich bekam keine Antwort, und einige Sekunden später wurde eingehängt. Eine ganze Minute lang beobachtete ich das Telefon in der Hoffnung, es würde noch einmal klingeln.
»Man wird schon wieder anrufen, Daniel. Und jetzt komm frühstücken«, sagte mein Vater.Sie wird später noch einmal anrufen, sagte ich mir. Jemand muß sie überrascht haben. Es war wohl nicht leicht, sich über Señor Aguilars Ausgangssperre hinwegzusetzen. Kein Grund zur Panik also. Mit diesem und andern Argumenten schleppte ich mich zum Tisch, wo ich so tat, als leistete ich meinem Vater und Fermín bei ihrem Frühstück Gesellschaft. Vielleicht war es der Regen, aber das Essen hatte jeden Geschmack verloren.Es schüttete den ganzen Vormittag, und kurz nach dem Öffnen der Buchhandlung suchte uns ein allgemeiner, bis zum Mittag andauernder Stromausfall im ganzen Viertel heim.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, seufzte mein Vater.Um drei begann das Wasser durchzusickern. Fermín erbot sich, zur Merceditas hinaufzugehen, um ein paar Eimer, Teller oder sonst geeignete Gefäße zu borgen. Mein Vater untersagte es ihm strikt. Die Sintflut hielt an. Um gegen die Beklemmung anzukämpfen, erzählte ich Fermín die Ereignisse der letzten Nacht, behielt aber für mich, was ich in der Krypta gesehen hatte. Er hörte mir fasziniert zu, aber trotz seines ungeheuren Drängens weigerte ich mich, ihm Form und Textur von Beas Busen zu beschreiben. Der Tag löste sich im Regen auf.Unter dem Vorwand, mir ein wenig die Beine zu vertreten, überließ ich meinen Vater nach dem Abendessen seiner Lektüre und ging zu Beas Haus. Dort angekommen, blieb ich an der Ecke stehen, schaute zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf und fragte mich, was ich hier eigentlich tat. Spionieren, schnüffeln und mich lächerlich machen — das ging mir so etwa durch den Kopf. Aber mit wenig Würde und noch weniger der eisigen Temperatur angemessener Kleidung stellte ich mich auf der andern Straßenseite in einen Hauseingang, um mich vor dem Wind zu schützen, und harrte dort etwa eine halbe Stunde aus. In den Fenstern sah ich die Schatten von Señor Aguilar und seiner Frau vorbeigehen. Von Bea keine Spur.Es war beinahe Mitternacht, als ich heimkehrte, schlotternd und die ganze Welt auf dem Buckel. Sie wird morgen anrufen, wiederholte ich mir tausendmal, während ich einzuschlafen versuchte. Am nächsten Tag rief sie nicht an. Am darauffolgenden ebensowenig. Die ganze Woche nicht, die längste und letzte meines Lebens.In sieben Tagen würde ich tot sein.
Nur jemand, der noch knapp eine Woche zu leben hat, ist fähig, seine Zeit so zu verschwenden, wie ich es in diesen Tagen tat. Ich lauerte auf einen Anruf und zerquälte mir die Seele, so gefangen in meiner Blindheit, daß ich kaum ahnen konnte, was im Grunde schon eine Selbstverständlichkeit war. Am Montag mittag ging ich in die Philosophische Fakultät auf der Plaza Universidad, um Bea zu sehen. Ich wußte, daß sie es gar nicht lustig finden würde, wenn ich dort aufkreuzte und man uns zusammen sah, aber lieber nahm ich ihren Zorn auf mich, als daß ich in dieser Ungewißheit weiterlebte.
Vor dem Hörsaal von Professor Velázquez wartete ich, bis die Studenten herauskamen. Nach etwa zwanzig Minuten öffneten sich die Türen, und ich sah den Professor mit arrogantem, gelecktem Gesicht vorbeigehen, wie immer inmitten eines Grüppchens von Bewunderinnen. Fünf Minuten später noch immer keine Spur von Bea. Ich trat an die Türen des Hörsaals, um einen Blick hineinzuwerfen. Ein Mädchentrio mit Sonntagsschulgesichtern unterhielt sich und tauschte Notizen oder Vertraulichkeiten aus. Die, die die Anführerin zu sein schien, sah mich, unterbrach ihren Monolog und durchbohrte mich mit einem forschenden Blick.
»Verzeihung, ich suche Beatriz Aguilar. Wißt ihr, ob sie diese Vorlesung besucht?« Die Mädchen wechselten einen Blick und unterzogen mich dann einer Röntgenaufnahme.
»Bist du ihr Verlobter?« fragte eine von ihnen.
»Der Leutnant?« Ich lächelte bloß hohl, was als Zustimmung aufgefaßt wurde. Nur das dritte Mädchen lächelte zurück, schüchtern und den Blick abgewandt. Herausfordernd kamen ihr die beiden andern zuvor.
»Ich habe mir dich anders vorgestellt«, sagte die Anführerin.
»Und die Uniform?« fragte die zweite mißtrauisch.
»Ich bin auf Urlaub. Wißt ihr, ob sie schon gegangen ist?«
»Beatriz ist heute nicht in die Vorlesung gekommen«, sagte die Anführerin.
»Ach nein?«
»Nein. Als ihr Verlobter müßtest du das eigentlich wissen.«
»Ich bin ihr Verlobter, kein Zivilgardist.«
»Kommt, wir gehen, der ist ja ’ne Witzfigur«, sagte die Anführerin.Mit scheelem Blick und angewidertem Grinsen gingen die beiden an mir vorüber. Die dritte, die Nachzüglerin, blieb einen Augenblick stehen, bevor sie den Hörsaal verließ, und flüsterte mir, ohne daß die andern es sahen, zu:
»Beatriz ist schon am Freitag nicht gekommen.«
»Weißt du, warum?«
»Du bist nicht ihr Verlobter, stimmt’s?«
»Nein. Nur ein Freund.«
»Ich glaube, sie ist krank.«
»Krank?«
»Das hat eines der Mädchen gesagt, das bei ihr angerufen hat. Jetzt muß ich aber gehen.« Bevor ich mich für ihre Hilfe bedanken konnte, war sie schon den beiden andern nachgegangen, die sie am entgegengesetzten Ende des Kreuzgangs mit zornigen Augen erwarteten.
»Da muß etwas geschehen sein, Daniel. Eine Großtante, die gestorben ist, ein Papagei mit Mumps, eine Erkältung vor lauter entblößtem Hintern, weiß Gott, was. Die Welt kreist nicht um das, wonach es Sie im Hosenzwickel gelüstet. Andere Faktoren beeinflussen das Werden der Menschheit.«
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