Ich spähte in den Korridor hinaus, in der Befürchtung — vielleicht auch im Wunsch —, daß da nur ein Fremder wäre, ein Vagabund, der sich in ein halbzerfallenes Haus hineingewagt hatte, um in unfreundlicher Nacht eine Zuflucht zu haben. Doch da war niemand, und ich sah bloß den bläulichen Schein der Fenster. Bea kauerte in einem Winkel des Bades und flüsterte zitternd meinen Namen.
»Da ist niemand«, sagte ich.
»Vielleicht war’s nur ein Windstoß.«
»Der Wind hämmert nicht mit der Faust an Türen, Daniel. Laß uns gehen.« Ich hob unsere Kleider auf.
»Da, zieh dich an. Wir wollen mal einen Blick riskieren.«
»Wir gehen besser gleich.«
»Sofort. Ich möchte nur eines herausfinden.« Schnell zogen wir uns im Dunkeln an. Ich nahm eine der Kerzen vom Boden auf und zündete sie wieder an. Ein kalter Luftzug wehte durchs Haus, als hätte jemand Türen und Fenster geöffnet.
»Siehst du? Es ist der Wind.« Bea schüttelte nur den Kopf. Die Flamme mit der Hand schirmend, gingen wir in den großen Saal zurück. Bea blieb dicht hinter mir, fast ohne zu atmen.
»Was suchen wir denn, Daniel?«
»Es dauert bloß eine Minute.«
»Nein, laß uns endlich gehen.«
»Also gut.« Wir kehrten zum Eingang zurück, da sah ich es. Die Holztür am Ende eines Gangs, die ich eine oder zwei Stunden zuvor vergeblich zu öffnen versucht hatte, war angelehnt.
»Was ist?« fragte Bea.
»Warte hier auf mich.«
»Daniel, bitte…« Mit der Kerze, die im kalten Windzug flackerte, ging ich in den Korridor hinein. Bea seufzte und folgte mir widerwillig. Vor der Tür blieb ich stehen. Man konnte marmorne Stufen erahnen, die in die Schwärze hinunterführten. Ich trat auf die Treppe. Bea blieb mit der Kerze auf der Schwelle stehen.
»Bitte, Daniel, laß uns endlich gehen…«
Stufe um Stufe stieg ich die Treppe hinunter. Der geisterhafte Schein der Kerze in der Höhe ließ den Umriß eines rechteckigen Raums mit ungetünchten Steinwänden voller Kruzifixe erkennen. Die klamme Kälte in diesem Raum verschlug einem den Atem. Vor mir zeichnete sich eine Marmorplatte ab, und darauf sah ich nebeneinander zwei gleiche, aber verschieden große weiße Gegenstände, in denen sich die flackernde Kerzenflamme stärker als sonst im Raum reflektierte. Nach einem weiteren Schritt begriff ich: Es handelte sich um zwei weiße Särge. Der eine war kaum drei Spannen breit. Die Nackenhaare sträubten sich mir. Es war ein Kindersarg, und ich befand mich in einer Krypta.
Ich trat so nahe an die Marmorplatte heran, daß ich den Arm ausstrecken und sie berühren konnte. Nun sah ich, daß auf beiden Särgen ein Name und ein Kreuz eingraviert waren. Eine dicke Staubschicht lag darüber. Ich legte die Hand auf den größeren und wischte ganz langsam, fast in Trance, den Staub vom Sargdeckel. Im Kerzenschimmer konnte ich knapp entziffern:
PENÉLOPE ALDAYA 1902–1919 Ich war wie gelähmt. In der Dunkelheit kam etwas oder jemand näher. Ich spürte die kalte Luft über meine Haut streichen, und erst jetzt wich ich ein paar Schritte zurück.
»Raus hier«, murmelte die Stimme aus dem Dunkel. Ich erkannte sie sogleich. Laín Coubert. Die Stimme des Teufels.
Ich stürzte die Treppe hinauf, und sowie ich wieder im Erdgeschoß war, packte ich Bea am Arm und zog sie hastig Richtung Ausgang. Wir hatten die Kerze verloren und rannten blind. Ich dachte, jeden Augenblick könnte etwas aus dem Schatten springen und uns den Weg versperren, doch am Ende des Gangs erwartete uns die Eingangstür, deren Ritzen ein Rechteck aus Licht zeichneten.
»Sie ist zu«, flüsterte Bea.
Ich tastete meine Taschen nach dem Schlüssel ab. Für einen Sekundenbruchteil schaute ich zurück und war sicher, daß zwei glänzende Punkte hinten im Gang langsam auf uns zukamen. Augen. Meine Finger fanden den Schlüssel. Verzweifelt steckte ich ihn ins Schlüsselloch, öffnete und stieß Bea heftig hinaus. Da sie merkte, wie erschrocken ich war, eilte sie durch den Garten aufs Gattertor zu und blieb erst stehen, als wir atemlos und mit kaltem Schweiß bedeckt auf dem Gehsteig der Avenida del Tibidabo standen.
»Was war da unten los, Daniel? War da jemand?«
»Nein.«
»Du bist bleich.«
»Ich bin immer bleich. Komm, gehen wir.«
»Und der Schlüssel?« Den hatte ich im Schloß steckenlassen. Mir war nicht danach, ihn jetzt zu holen.
»Ich glaube, ich habe ihn beim Hinausgehen verloren. Wir werden ihn ein andermal suchen.«
Wir eilten die Straße hinunter, wechselten die Seite und verlangsamten unsere Schritte erst, als wir gut hundert Meter von dem alten Haus entfernt waren und seine Umrisse in der Nacht aus den Augen verloren. Da sah ich, daß meine Hand noch immer voller Staub war, und dankte es der nächtlichen Dunkelheit, daß sie die Tränen, die mir über die Wangen kullerten, vor Bea versteckte.
Wir gingen die Calle Balmes hinunter bis zur Plaza Núñez de Arce, wo wir ein einsames Taxi fanden. Darin fuhren wir fast wortlos bis zur Calle Consejo de Ciento. Bea nahm meine Hand, und ein paar Mal sah ich, wie sie mich mit starrem, undurchdringlichem Blick musterte. Ich beugte mich über sie, um sie zu küssen, doch sie öffnete die Lippen nicht.
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Ich ruf dich morgen oder übermorgen an«, sagte sie.
»Versprochen?« Sie nickte.
»Du kannst mich zu Hause oder im Laden anrufen, es ist dieselbe Nummer. Du hast sie doch, nicht wahr?«
Sie nickte abermals. Ich bat den Fahrer, an der Ecke Muntaner/Diputación einen Augenblick anzuhalten, und erbot mich, Bea zu ihrer Haustür zu begleiten, doch sie schlug es aus und ging davon, ohne daß ich sie noch einmal küssen oder auch nur ihre Hand berühren konnte. Sie begann zu laufen, und ich schaute ihr aus dem Taxi nach. In der Aguilar-Wohnung brannte Licht, und ich konnte deutlich sehen, wie mich Tomás vom Fenster seines Zimmers aus beobachtete, in dem wir so manchen Nachmittag verplaudert oder Schach gespielt hatten. Mit einem gezwungenen Lächeln, das er wahrscheinlich nicht sehen konnte, winkte ich ihm zu. Er erwiderte den Gruß nicht. Seine Gestalt blieb reglos, dicht an der Scheibe, und betrachtete mich frostig. Ein paar Sekunden später zog er sich zurück, und die Fenster wurden dunkel. Er hatte wohl auf uns gewartet.
Als ich nach Hause kam, standen die Reste eines Abendessens für zwei Personen auf dem Tisch. Mein Vater hatte sich schon zurückgezogen, und ich fragte mich, ob er sich am Ende dazu durchgerungen hatte, die Merceditas zum Essen einzuladen. Ohne das Licht anzumachen, trat ich in mein Zimmer. Als ich mich auf die Bettkante setzte, bemerkte ich, daß noch jemand im Raum war beziehungsweise mit auf der Brust gefalteten Händen totengleich im Halbdunkeln auf dem Bett lag. Wie einen Peitschenhieb spürte ich die Kälte im Magen, aber dann erkannte ich rasch das Schnarchen und das Profil einer unvergleichlichen Nase. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah Fermín Romero de Torres, der auf der Bettdecke ein behagliches Seufzen von sich gab. Ich räusperte mich, und er öffnete die Augen. Als er mich erblickte, schien er sich zu wundern. Offensichtlich erwartete er eine andere Gesellschaft. Er rieb sich die Augen und schaute sich um, als wollte er sich über die Umstände nähere Klarheit verschaffen.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt. Die Bernarda sagt, im Schlaf sehe ich aus wie ein spanischer Boris Karloff.«
»Was machen Sie denn in meinem Bett, Fermín?« Er schloß halb die Augen.
»Von Carole Lombard träumen. Wir waren in Tanger in einem türkischen Bad, und ich habe sie vollkommen mit Öl eingerieben, mit diesem Öl, das man für Babypos braucht. Haben Sie je eine Frau mit Öl eingeschmiert, von oben bis unten — bewußt?«
»Fermín, es ist halb eins, und ich bin zum Umfallen müde.«
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