Dr. Baró war ein eingefleischter Junggeselle, der in seinen schlaflosen Nächten zur Bekämpfung der Langeweile Zola las und Stereogramme leicht bekleideter junger Damen betrachtete. Er war Stammkunde im Laden meines Vaters, und obwohl er sich selbst als zweitrangigen Quacksalber bezeichnete, traf er mit seinen Diagnosen öfter ins Schwarze als die Hälfte der piekfeinen Ärzte mit Praxis in der Calle Muntaner. Seine Kundschaft bestand großenteils aus alten Nutten des Viertels und armen Teufeln, die ihm kaum das Honorar zahlen konnten, aber trotzdem von ihm behandelt wurden. Mehr als einmal hatte ich ihn sagen hören, die Welt sei ein Nachtgeschirr und er warte bloß darauf, daß Barça endlich einmal die verdammte Liga gewinne, damit er in Frieden sterben könne. Im Hausmantel, mit einer Weinfahne und einer erloschenen Zigarette zwischen den Lippen öffnete er mir die Tür.
»Daniel?«
»Mein Vater schickt mich. Es handelt sich um einen Notfall.«
Wieder in der Pension, sahen wir Doña Encarna vor lauter Schrecken schluchzen; die übrigen Mieter waren bleich wie Altarkerzen, und in einer Ecke seines Zimmers hielt mein Vater Fermín Romero de Torres in den Armen. Fermín war nackt, weinte und zitterte vor Angst. Das Zimmer war verwüstet, die Wände mit Blut oder Exkrementen beschmiert. Dr. Baró warf einen raschen Blick auf die Situation und bedeutete meinem Vater mit einer Handbewegung, Fermín müsse aufs Bett gelegt werden. Doña Encarnas Sohn, der Boxer werden wollte, ging ihnen zur Hand. Fermín wimmerte und wand sich in Zuckungen, als verbrennten ihm die Eingeweide.
»Aber was hat denn dieser arme Mann, um Gottes willen? Was hat er bloß?« klagte Doña Encarna kopfschüttelnd in der Tür.
Der Arzt fühlte ihm den Puls, untersuchte mit einer Taschenlampe seine Pupillen und bereitete wortlos aus einem Fläschchen seines Koffers eine Spritze vor.
»Halten Sie ihn fest. Das wird ihn zum Schlafen bringen. Daniel, hilf uns.«
Zu viert machten wir Fermín bewegungsunfähig, den es heftig durchzuckte, als er den Nadelstich im Schenkel spürte. Seine Muskeln strafften sich wie Stahlseile, aber innerhalb weniger Sekunden trübten sich die Augen, und sein Körper fiel regungslos zurück.
»Hören Sie, passen Sie auf, dieser Mann ist ein Nichts, und je nachdem, was Sie ihm geben, bringen Sie ihn um«, sagte Doña Encarna.
»Keine Angst. Er schläft bloß«, antwortete der Arzt und untersuchte die Narben auf Fermíns hagerem Körper.
Ich sah ihn schweigend den Kopf schütteln.
» Fills de puta, diese Dreckskerle«, murmelte er.
»Woher stammen diese Narben?« fragte ich.
»Schnitte?«
Dr. Baró schüttelte den Kopf, ohne aufzuschauen. Unter den Trümmern suchte er eine Decke und legte sie auf den Patienten.
»Verbrennungen. Der Mann ist gefoltert worden. Solche Brandmale verursacht ein Lötkolben.« Fermín schlief zwei ganze Tage. Beim Erwachen erinnerte er sich an nichts, außer daß er glaubte, in einer dunklen Zelle aufgewacht zu sein. Er schämte sich so sehr über sein Benehmen, daß er vor Doña Encarna auf die Knie ging und sie um Verzeihung bat. Er schwor ihr, die Pension frisch zu streichen und, da er wußte, daß sie sehr fromm war, in der Belén-Kirche zehn Messen für sie lesen zu lassen.
»Was Sie tun müssen, ist gesund werden und mir nicht wieder einen solchen Schrecken einjagen, dafür bin ich zu alt.« Mein Vater kam für die Schäden auf und bat Doña Encarna, Fermín noch einmal eine Chance zu geben. Sie willigte gern ein. Die meisten ihrer Mieter waren Ausgestoßene, Leute, die allein auf der Welt waren wie sie selbst. Als der Schrecken vorbei war, gewann sie Fermín noch lieber und nahm ihm das Versprechen ab, die Pillen zu schlucken, die ihm Dr. Baró verschrieben hatte.
»Für Sie, Doña Encarna, verschlucke ich einen Ziegelstein, wenn es sein muß.« Mit der Zeit gaben wir alle vor, den Zwischenfall vergessen zu haben, aber nie wieder nahm ich die Geschichten über Inspektor Fumero auf die leichte Schulter. Um Fermín Romero de Torres nach dieser Episode nicht allein zu lassen, luden wir ihn fast jeden Sonntag zum Nachmittagsimbiß ins Café Novedades ein. Danach spazierten wir zum Kino Fémina an der Ecke Diputación/Paseo de Gracia hinauf. Einer der Platzanweiser war mit meinem Vater befreundet und ließ uns während der Filmwochenschau durch den Notausgang ins Parterre hinein, immer in dem Augenblick, in dem der Generalissimus zur Einweihung eines neuen Stausees das Band durchschnitt, was Fermín Romero de Torres auf die Nerven ging.
»So eine Schande«, sagte er empört.
»Gehen Sie nicht gern ins Kino, Fermín?«
»Im Vertrauen gesagt, mich läßt diese siebte Kunst völlig kalt. Meiner Meinung nach ist das nichts weiter als Nahrung zur Verdummung der verrohten Plebs, schlimmer als Fußball oder Stierkämpfe. Der Cinematograph ist entstanden als eine Erfindung zur Unterhaltung der analphabetischen Massen, und fünfzig Jahre später hat sich daran nichts geändert.« Mit dem Tag, an dem Fermín Romero de Torres Carole Lombard entdeckte, schmolzen diese ganzen Vorbehalte dahin.
»Was für ein Busen, Jesus, Maria und Josef, was für ein Busen!« rief er wie besessen mitten in der Vorstellung.
»Das sind keine Brüste, das sind zwei Karavellen!«
»Halten Sie den Mund, Sie Ferkel, oder ich rufe auf der Stelle den Geschäftsführer«, zischte eine Stimme zwei Reihen hinter uns.
»Unerhört, so ein schamloser Kerl. Was für ein Land von Schweinen.«
»Sie sprechen besser leiser, Fermín«, riet ich.Fermín Romero de Torres hörte mich nicht. Er war dem sanften Wogen dieses mirakulösen Ausschnitts verfallen, mit verzücktem Lächeln und technicolorbesprenkelten Augen. Als wir später durch den Paseo de Gracia zurückspazierten, stellte ich fest, daß unser bibliographischer Detektiv immer noch wie in Trance war.
»Ich glaube, wir werden Ihnen eine Frau suchen müssen«, sagte ich.
»Eine Frau wird Ihr Leben verschönern, Sie werden schon sehen.« Fermín Romero de Torres seufzte, sein Geist spulte noch einmal die Wonnen des Wogens ab.
»Reden Sie aus Erfahrung, Daniel?« fragte er unschuldig.Ich lächelte nur, weil ich wußte, daß mich mein Vater schräg ansah.Nach diesem Tag ging Fermín Romero de Torres mit Vergnügen jeden Sonntag mit mir ins Kino. Mein Vater blieb lieber zu Hause, um zu lesen, aber Fermín ließ keine Vorstellung aus. Er kaufte einen Berg Schokoladenplätzchen und setzte sich in Reihe siebzehn, um sie zu verschlingen und auf den Starauftritt der jeweiligen Diva zu warten. Der Plot war ihm vollkommen egal, und er sprach unablässig, bis eine Dame mit ansehnlichen Attributen die Leinwand ausfüllte.
»Ich habe darüber nachgedacht, was Sie neulich gesagt haben, von wegen eine Frau für mich suchen«, sagte er.
»Vielleicht haben Sie recht. In der Pension gibt es einen neuen Mieter, einen ehemaligen Absolventen des Priesterseminars in Sevilla, sehr geistreich, und der bringt ab und zu imponierende Bienen mit nach Hause. Unglaublich, wie sich die Sippe verbessert hat. Ich weiß auch nicht, wie er es anstellt, denn viel macht der Junge nicht her, aber womöglich betäubt er sie mit Vaterunsern. Da sein Zimmer gleich nebenan liegt, höre ich alles, und nach dem zu schließen, was man mitkriegt, muß der Mönch ein Künstler sein. Was doch eine Uniform ausmacht. Wie gefallen denn Ihnen die Frauen, Daniel?«
»Ich verstehe nicht viel von Frauen, ehrlich gesagt.«
»Wirklich verstehen tut keiner was, nicht einmal Freud, nicht einmal sie selber, aber das ist wie bei der Elektrizität, man braucht nicht zu wissen, wie sie funktioniert, um eine gewischt zu kriegen. Na los, erzählen Sie schon. Wie gefallen sie Ihnen denn? Es sei mir verziehen, aber für mich muß eine Frau die Figur eines Vollblutweibes haben, damit man etwas zwischen die Finger kriegt, aber Sie sehen aus, als gefielen Ihnen die Mageren, und das ist ein Gesichtspunkt, den ich durchaus respektiere, nicht wahr, verstehen Sie mich nicht falsch.«
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