»Eben. Was dieses Buch braucht, ist, daß man es beerdigt, wo keiner es finden kann.«
Isaac warf einen mißtrauischen Blick in die Gasse. Er stieß die Tür etwas weiter auf und bedeutete mir einzutreten. Die dunkle, unergründliche Vorhalle roch nach verbranntem Wachs und Feuchtigkeit. In der Finsternis hörte man sporadisches Tropfen. Isaac übergab mir die Lampe und zog aus seinem Flanellkittel einen Schlüsselbund, um den ihn jeder Kerkermeister beneidet hätte. Mit Hilfe irgendeiner Geheimwissenschaft traf er sogleich den gesuchten Schlüssel und steckte ihn in ein Schloß an der Tür, das durch ein Glasgehäuse voller Zahnräder und Stangen geschützt war, welches einer überdimensionierten Spieldose glich. Nach einer Drehung seines Handgelenks knackte der Mechanismus, und ich sah, daß sich die Hebel und Drehpunkte in einem wunderlichen mechanischen Ballett bewegten, bis sich das Tor in mehrere Stahlstangen fügte, die in der Mauer versanken.
»Nicht einmal die Bank von Spanien…«, sagte ich beeindruckt.
»Wie eine Erfindung von Jules Verne.«
»Von Kafka«, korrigierte mich Isaac und nahm die Lampe wieder an sich, um in die Tiefen des Hauses hineinzugehen.
»Wenn Sie erst einmal begreifen, daß die Sache mit den Büchern Unglück bringt, und lernen wollen, wie man eine Bank ausraubt oder eine gründet, was auf ein und dasselbe hinausläuft, dann besuchen Sie mich wieder, und ich erkläre Ihnen ein paar Dinge über Schlösser.« Ich folgte ihm durch die Gänge voller Fresken mit Engeln und Schimären. Isaac hielt die Lampe in die Höhe, so daß sie eine flackernde Blase aus rötlichem Licht an die Wände warf. Er hinkte ein wenig, und sein fadenscheiniger Flanellmantel sah trostlos aus. Ich dachte, dieser Mann würde sich auf Julián Carax’ Seiten bestimmt wohl fühlen.
»Wissen Sie etwas über Carax?« fragte ich.
Isaac blieb am Ende einer Galerie stehen und blickte mich gleichgültig an.
»Nicht viel. Was man mir eben so erzählt hat.«
»Wer?«
»Jemand, der ihn gut gekannt hat — oder es geglaubt hat.« Das Herz schlug mir bis zum Hals.
»Wann war das?«
»Als ich mich noch kämmte. Sie haben vermutlich noch in den Windeln gesteckt, und es sieht nicht so aus, als hätten Sie sich stark weiterentwickelt, ehrlich gesagt. Schauen Sie sich an — Sie zittern ja.«
»Das ist wegen der nassen Kleider und der Kälte hier drin.«
»Das nächste Mal geben Sie mir Bescheid, und ich schalte die Zentralheizung ein, um Sie auf Händen zu tragen, Schätzchen. Los, kommen Sie mit. Da ist mein Büro, da gibt es eine Heizung und etwas, was Sie sich überziehen können, während wir Ihre Kleider trocknen. Und ein wenig Mercurochrom und Wasserstoffperoxid würde auch nicht schaden, Sie haben ja eine Visage, als kämen Sie geradewegs vom Polizeirevier in der Vía Layetana.«
»Machen Sie bitte keine Umstände.«
»Ich mache keine Umstände. Das tue ich für mich, nicht für Sie. Hinter dieser Tür stelle ich die Regeln auf, und die einzigen Toten hier sind die Bücher. Nicht, daß Sie sich noch eine Lungenentzündung holen und ich die Leute von der Leichenhalle holen muß. Um das Buch da kümmern wir uns später. In achtunddreißig Jahren habe ich noch keins davonlaufen sehen.«
»Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin…«
»Reden Sie keinen Unsinn. Wenn ich Sie hereingebeten habe, dann aus Respekt vor Ihrem Vater, sonst hätte ich Sie auf der Straße gelassen. Folgen Sie mir bitte. Und wenn Sie sich anständig benehmen, erzähle ich Ihnen vielleicht, was ich über Ihren Freund Julián Carax weiß.« Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, daß er lächelte wie ein gerissener Gauner, als er sich unbeobachtet fühlte. Ganz offensichtlich genoß Isaac seine Rolle als unheimlicher Zerberus. Auch ich mußte bei mir lächeln. Jetzt war der letzte Zweifel ausgeräumt, wem das Gesicht des Türklopferteufelchens gehörte.
Isaac warf mir zwei dünne Decken über die Schultern und gab mir eine Tasse mit einem dampfenden Gesöff, das nach heißer Schokolade mit Schnaps roch.
»Sie wollten mir von Carax erzählen…«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der erste, den ich Carax habe erwähnen hören, war Toni Cabestany, der Verleger. Das war vor zwanzig Jahren, als der Verlag noch existierte. Immer wenn Cabestany von seinen Reisen nach London, Paris oder Wien zurückkam, ist er hier aufgekreuzt, und wir haben eine Weile geplaudert. Wir waren beide verwitwet, und er beklagte sich, daß wir jetzt mit den Büchern verheiratet seien, ich mit den alten und er mit denen der Buchhaltung. Wir waren gute Freunde. Bei einem seiner Besuche hat er mir erzählt, er habe soeben für ein paar Münzen die spanischen Rechte der Romane eines gewissen Julián Carax gekauft, eines Barcelonesen, der in Paris lebe. Das muß im Jahr 28 oder 29 gewesen sein. Anscheinend hat Carax nachts in einem schäbigen Bordell in Pigalle als Pianist gearbeitet und tagsüber in einer elenden Dachwohnung in Saint-Germain geschrieben. Paris ist die einzige Stadt der Welt, wo Verhungern noch als Kunst gilt. Carax hatte in Frankreich zwei Romane veröffentlicht, die sich als absolute Ladenhüter erwiesen haben. In Paris gab keiner einen Pfifferling für ihn, und Cabestany hatte schon immer gern billig Rechte erworben.«
»Hat Carax denn nun auf spanisch oder französisch geschrieben?«
»Nun, vermutlich beides. Seine Mutter war Französin, Musiklehrerin, glaube ich, und er hatte in Paris gelebt, seit er neunzehn oder zwanzig war. Cabestany sagte, sie bekämen die Manuskripte von Carax auf spanisch. Ob es Übersetzungen oder Originale waren, hat ihn nicht gekümmert. Cabestanys Lieblingssprache war die der klingenden Münze, alles andere war ihm vollkommen egal. Er hatte sich gedacht, vielleicht könne er mit einem glücklichen Zufall einige tausend Carax-Exemplare auf dem spanischen Markt plazieren.«
»Und — ist es ihm gelungen?« Isaac runzelte die Stirn und schenkte mir noch etwas von seinem wohltuenden Gebräu nach.
»Ich glaube, der Roman, von dem er am meisten verkauft hat, war Das rote Haus — etwa neunzig Exemplare.«
»Aber er hat weiterhin Carax veröffentlicht, obwohl er Geld damit verlor«, bemerkte ich.
»So ist es. Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, warum. Cabestany war nicht eben ein Romantiker. Aber vielleicht hat jeder Mensch seine Geheimnisse… Zwischen 1928 und 36 hat er acht Romane von ihm herausgebracht. Womit Cabestany wirklich Geld gemacht hat, das war mit den Katechismen und einer Reihe von billigen Liebesromanen, in denen eine Heldin aus der Provinz die Hauptrolle spielte, Violeta LaFleur, die sind an den Kiosken sehr gut gelaufen. Carax’ Romane hat er vermutlich nur zum Spaß publiziert.«
»Was ist aus Señor Cabestany geworden?« Isaac seufzte und schaute auf.
»Das Alter, das von uns allen seinen Tribut fordert. Er wurde krank und bekam Geldprobleme. 1936 hat der ältere Sohn den Verlag übernommen, aber er gehörte zu denen, die nicht einmal ihren Namen fehlerfrei schreiben können. In weniger als einem Jahr ist die Firma auf den Hund gekommen. Zum Glück hat Cabestany nicht mehr gesehen, was seine Erben mit der Frucht eines langen Arbeitslebens angestellt haben — und was der Krieg mit dem Land angestellt hat. Am Abend von Allerheiligen raffte ihn eine Embolie dahin, mit einer Cohiba im Mund und einem fünfundzwanzigjährigen Mädchen auf den Knien. Der Sohn hatte einen andern Charakter. Arrogant, wie nur Dummköpfe sein können. Seine erste große Idee war der Versuch, den ganzen Lagerbestand des Verlags zu verkaufen, also das Vermächtnis seines Vaters, um die Bücher zu Papiermasse zu machen oder so. Ein Freund von ihm, noch so ein verwöhntes Burschen mit einem Haus in Caldetas und einem Bugatti, hatte ihn davon überzeugt, daß Liebes-Fotoromane und Mein Kampf sich fantastisch verkaufen würden und daß man tonnenweise Zellulose brauche, um die Nachfrage zu befriedigen.«
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