»Interessieren Sie sich für Fotografie, lieber Martín?«, fragte die Stimme neben mir.
Erschrocken fuhr ich herum. An meiner Seite betrachtete Andreas Corelli die Bilder mit einem melancholischen Lächeln. Ich hatte sein Kommen nicht bemerkt, und sein Lächeln ließ mich schaudern.
»Ich dachte schon, Sie würden ausbleiben.«
»Ich auch.«
»Dann erlauben Sie mir, Sie zu einem Glas Wein einzuladen, um auf unseren Irrtum anzustoßen.«
Ich folgte ihm in einen geräumigen Salon mit großen, sich zur Stadt hin öffnenden Fenstern. Corelli bot mir einen Sessel an und schenkte dann aus einer Kristallkaraffe, die auf dem Tisch zwischen uns stand, zwei Gläser ein. Er reichte mir eins und setzte sich mir gegenüber.
Der Wein schmeckte ausgezeichnet. Ich trank ihn fast in einem Zug aus und spürte sofort, wie die den Hals hinabgleitende Wärme meine Nerven beruhigte. Corelli schnupperte an seinem Glas und schaute mich mit ruhigem, freundlichem Lächeln an.
»Sie hatten recht«, sagte ich.
»Das habe ich fast immer«, antwortete er. »Es ist eine Angewohnheit, die mir selten Befriedigung verschafft. Manchmal denke ich, nichts wäre mir angenehmer als die Gewissheit, mich geirrt zu haben.«
»Das ist leicht zu beheben. Fragen Sie mich. Ich irre mich ständig.«
»Nein, Sie irren sich nicht. Ich glaube, Sie sehen die Dinge fast genauso klar wie ich, und auch Ihnen verschafft das keine Befriedigung.«
Als ich ihm zuhörte, ging mir auf, dass mir nur eine Sache in diesem Moment Befriedigung verschaffen könnte: die ganze Welt in Brand zu stecken und mit ihr zu verbrennen. Als hätte Corelli meine Gedanken gelesen, lächelte er breit und nickte.
»Ich kann Ihnen helfen, mein Freund.«
Ich ertappte mich dabei, wie ich seinem Blick auswich und mich auf die kleine Brosche mit dem Silberengel an seinem Revers konzentrierte.
»Hübsche Brosche«, sagte ich, auf sie deutend.
»Ein Erbstück.«
Für diesen Abend hatten wir nun genügend Höflichkeiten und Banalitäten ausgetauscht.
»Señor Corelli, was tue ich hier?«
Seine Augen glänzten in derselben Farbe wie der Wein, der sich langsam in seinem Glas wiegte.
»Ganz einfach. Sie sind hier, weil Sie endlich begriffen haben, dass Sie hier am rechten Ort sind. Sie sind hier, weil ich Ihnen vor einem Jahr ein Angebot gemacht habe. Ein Angebot, das anzunehmen Sie damals noch nicht bereit waren, das Sie aber nicht vergessen haben. Und ich bin hier, weil ich nach wie vor der Überzeugung bin, dass Sie der Mann sind, den ich suche, und daher habe ich lieber zwölf Monate gewartet, als die Gelegenheit ungenutzt zu lassen.«
»Ein Angebot, das Sie nie detaillierter ausgeführt haben«, rief ich ihm in Erinnerung.
»Tatsächlich habe ich Ihnen nur Details genannt.«
»Hunderttausend Francs, um ein Jahr lang ein Buch für Sie zu schreiben.«
»Genau. Viele würden denken, das sei das Wesentliche. Aber Sie nicht.«
»Sie sagten mir, sobald ich wüsste, um welche Art Buch es sich handelt, würde ich es sogar ohne Bezahlung schreiben.«
Corelli nickte.
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Señor Corelli, und ich kann mich nicht erinnern, jemals ein von Ihnen verlegtes Buch gesehen oder davon gelesen oder gehört zu haben.«
»Zweifeln Sie an meiner Glaubwürdigkeit?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, das Verlangen und die Geldgier zu verbergen, die mich innerlich zerfraßen. Je mehr Desinteresse ich zeigte, desto mehr führten mich die Verheißungen des Verlegers in Versuchung.
»Mich interessieren einfach Ihre Motive«, sagte ich.
»Das sollten sie ja auch.«
»Jedenfalls erinnere ich Sie daran, dass ich für weitere fünf Jahre einen Exklusivvertrag mit Barrido und Escobillas zu erfüllen habe. Neulich habe ich sehr aufschlussreichen Besuch bekommen — die beiden und ein Anwalt, der so aussah, als machte er nicht viel Federlesens. Aber vermutlich ist das egal, fünf Jahre sind eine lange Zeit. Wenn ich eines weiß, dann dies: Zeit ist das, von dem ich am wenigsten habe.«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Anwälte. Meine machen noch viel weniger Federlesens als die dieser beiden Eiterbeulen, und sie verlieren nie einen Fall. Überlassen Sie die rechtlichen Einzelheiten und die Prozessführung ruhig mir.«
Sein Lächeln bei diesen Worten zeigte mir, dass ich besser nie eine Unterhaltung mit den Rechtsberatern der Éditions de la Lumière führen sollte.
»Ich glaube Ihnen. Kommen wir also zu der Frage, welches die anderen Details Ihres Angebotes sind, die wesentlichen.«
»Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, also spreche ich am besten ohne Umschweife.«
»Ich bitte darum.«
Corelli beugte sich vor und schaute mir fest in die Augen.
»Martín, ich will, dass Sie für mich eine Religion begründen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Wie meinen Sie?«
Corelli hielt meinem Blick stand, seine Augen von unendlicher Tiefe.
»Ich habe gesagt, ich will, dass Sie für mich eine Religion erschaffen.«
Lange schaute ich ihn stumm an.
»Sie machen sich lustig über mich.«
Er schüttelte den Kopf und nippte genussvoll an seinem Wein.
»Ich will, dass Sie ein Jahr lang mit Leib und Seele und Ihrem ganzen Talent an dem größten Werk arbeiten, das Sie je schaffen werden: an einer Religion.«
Ich konnte nicht umhin, laut zu lachen.
»Sie sind vollkommen verrückt. Das ist Ihr Angebot? Das ist das Buch, das ich für Sie schreiben soll?«
Corelli nickte gelassen.
»Sie haben sich im Schriftsteller geirrt. Ich habe keine Ahnung von Religion.«
»Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Das übernehme ich. Ich suche keinen Theologen. Ich suche einen Erzähler. Wissen Sie, was eine Religion ist, mein lieber Martín?«
»Ich erinnere mich mit Mühe und Not ans Vaterunser.«
»Ein wunderbares, sehr kunstvolles Gebet. Aber Poesie beiseite, eine Religion ist ein Moralkodex, der sich mithilfe von Legenden, Mythen oder irgendeiner anderen literarischen Form ausdrückt. So wird ein Netz von Werten und Normen gespannt, das eine Kultur oder eine Gemeinschaft zusammenhält und leitet.«
»Amen«, erwiderte ich.
»Wie in der Literatur, überhaupt bei jeder Äußerung, ist es die Form und nicht der Inhalt, die dem Ganzen Wirksamkeit verleiht«, fuhr er fort.
»Sie wollen mir also sagen, eine Lehre sei eine Erzählung.«
»Alles ist eine Erzählung, Martín. Das, was wir glauben, was wir wissen, woran wir uns erinnern und sogar was wir träumen. Alles ist eine Erzählung, eine Geschichte, eine Folge von Ereignissen und Personen, die etwas Emotionales vermittelt. Ein Glaubensakt ist ein Akt der Annahme — wir akzeptieren eine Geschichte, die uns erzählt wird. Und wir akzeptieren nur als wahr, was erzählt werden kann. Sagen Sie nicht, Sie finden den Gedanken nicht verlockend.«
»Nein.«
»Reizt es Sie nicht, eine Geschichte zu schreiben, für die die Menschen leben und sterben würden, für die sie töten und den eigenen Tod in Kauf nehmen würden, für die sie opfern und verdammen und ihre Seele aushauchen würden? Kann es für einen Schriftsteller eine größere Herausforderung geben, als eine so gewaltige Geschichte zu erschaffen, dass sie ihr Erdichtetsein vergessen lässt und zur offenbarten Wahrheit wird?«
Wir schauten uns einige Sekunden schweigend an.
»Ich glaube, Sie kennen meine Antwort schon«, sagte ich schließlich.
Corelli lächelte.
»Ich schon. Der, der sie, glaube ich, noch nicht kennt, sind Sie.«
»Danke für Ihre Gesellschaft, Señor Corelli. Und für den Wein und den Vortrag. Sehr provokativ. Passen Sie gut auf, vor wem Sie ihn halten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihren Mann finden und dass sein Pamphlet ein voller Erfolg wird.«
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