»Es hat mich halt eine Straßenbahn überfahren. Ist Barrido da?«
»Was du immer für Ideen hast. Für dich ist er jederzeit da. Er wird sehr glücklich sein, wenn ich ihm sage, dass du uns besuchen kommst.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich.«
Sie führte mich in Barridos Büro, das aussah wie die Kulisse einer Schmierenkomödie, vollgepfropft mit Teppichen, Kaiserbüsten, Stillleben und ledergebundenen Bänden, die er en gros erworben hatte, wahrscheinlich waren es reine Attrappen. Barrido schenkte mir sein öligstes Lächeln und gab mir die Hand.
»Wir können es alle gar nicht erwarten, die neue Folge zu bekommen. Sie sollen wissen, dass wir die beiden letzten neu aufgelegt haben und dass man sie uns aus den Händen reißt. Fünftausend weitere Exemplare. Wie finden Sie das?«
Ich fand, es müssten mindestens fünfzigtausend sein, beschränkte mich aber auf ein unbeeindrucktes Nicken. Barrido und Escobillas hatten das, was in der Barceloneser Verlegerzunft doppelte Auflage genannt wurde, wie ein welkendes kostbares Blumenbouquet immer weiter mit frischen Blüten gestreckt. Von jedem Titel gab es eine offizielle Auflage von einigen tausend Exemplaren, wofür dem Autor eine lächerliche Beteiligung bezahlt wurde. Wenn das Buch danach gut lief, gab es in Wahrheit eine oder viele geheime Auflagen mit Zehntausenden von Exemplaren, für die der Autor keine Pesete sah. Diese konnte man von der ersten Auflage gut unterscheiden, denn Barrido ließ sie in einer alten Wurstfabrik in Santa Perpetua de Mogoda drucken, und beim Durchblättern schlug einem unverkennbar der Geruch nach geräucherter Paprikawurst entgegen.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«
Barrido und die Giftige wechselten einen Blick, ohne die Grimasse zu lockern. In diesem Augenblick materialisierte sich Escobillas in der Tür und schaute mich mit nüchternverdrießlicher Miene an, als nähme er mit bloßem Auge Maß für einen Sarg.
»Sieh nur, wer uns besuchen gekommen ist. Was für eine angenehme Überraschung, nicht wahr?«, fragte Barrido seinen Teilhaber, der bloß nickte und dann fragte:
»Was sind das für schlechte Nachrichten?«
»Sind Sie ein wenig im Rückstand, lieber Martín?«, fügte Barrido freundschaftlich hinzu. »Wir können uns sicher anpassen…«
»Nein. Es gibt keinen Rückstand. Es wird einfach kein Buch geben.«
Escobillas trat einen Schritt vor und zog die Brauen hoch. Barrido kicherte vor sich hin.
»Was heißt das, es wird kein Buch geben?«, fragte Escobillas.
»Das heißt, dass ich es gestern verbrannt habe und dass keine einzige Manuskriptseite mehr da ist.«
Ein unheilschwangeres Schweigen breitete sich aus. Barrido machte eine versöhnliche Handbewegung und deutete auf den sogenannten Besuchersessel, ein schwärzliches, eingefallenes Monstrum, in das man Autoren und Lieferanten quetschte, damit sie auf Barridos Augenhöhe zu sitzen kamen.
»Setzen Sie sich, Martín, und erzählen Sie. Etwas macht Ihnen Sorgen, ich sehe es. Sie können sich bei uns aussprechen, Sie gehören ja zur Familie.«
Die Giftige und Escobillas nickten voller Überzeugung und dokumentierten das Ausmaß ihrer Hochschätzung mit einem Blick berückter Ergebenheit. Ich blieb lieber stehen. Alle taten es mir gleich und schauten mich an wie eine Salzsäule, die jeden Moment zu sprechen beginnt. Barrido schien vor lauter Lächeln schon das Gesicht zu schmerzen.
»Na?«
»Ignatius B. Samson hat sich umgebracht. Er hat eine Erzählung von zwanzig Seiten hinterlassen, in der er in enger Umarmung mit Chloé Permanyer stirbt, nachdem beide Gift geschluckt haben.«
»Der Autor stirbt in einem seiner eigenen Romane?«, fragte Herminia verwirrt.
»Das ist sein avantgardistischer Abschied vom Fortsetzungsroman. Ein Detail, bei dem ich mir sicher war, dass es Ihnen sehr gefallen würde.«
»Und könnte es nicht ein Gegengift geben oder…?«, fragte die Giftige.
»Martín, ich brauche Ihnen wohl nicht in Erinnerung zu rufen, dass Sie es sind und nicht der angeblich verstorbene Ignatius, der einen Vertrag unterschrieben hat«, sagte Escobillas.
Mit einer Handbewegung brachte Barrido seinen Kolle gen zum Schweigen.
»Ich glaube, ich weiß, was mit Ihnen los ist, Martín. Sie sind erschöpft. Seit Jahren zermartern Sie sich unermüdlich das Hirn, was dieses Haus zu schätzen weiß und wofür wir Ihnen dankbar sind. Sie brauchen eine Atempause. Ich verstehe das. Wir alle verstehen das, nicht wahr?«
Barrido schaute Escobillas und die Giftige an, die ein entsprechendes Gesicht aufsetzten und nickten.
»Sie sind ein Künstler und wollen Kunst machen, hohe Literatur, etwas, was Ihrem Herzen entströmt und Ihren Namen den Stufen der Weltgeschichte in goldenen Lettern einprägt.«
»So, wie Sie es erklären, klingt es lächerlich«, sagte ich.
»Weil es lächerlich ist«, führte Escobillas an.
»Nein, ist es nicht«, unterbrach ihn Barrido. »Es ist menschlich. Und wir sind menschlich. Ich, mein Teilhaber und Herminia, die als zartfühlende Frau und sensibles Wesen die Menschlichste von uns allen ist — ist es nicht so, Herminia?«
»Ja, mehr als menschlich«, stimmte die Giftige zu.
»Und da wir menschlich sind, verstehen wir Sie und wollen Ihnen helfen. Weil wir stolz auf Sie sind und überzeugt, dass Ihre Erfolge auch unsere Erfolge sein werden, und weil in diesem Haus letztlich die Menschen und nicht die Zahlen zählen.«
Nach seiner Ansprache legte Barrido eine Kunstpause ein. Vielleicht erwartete er Beifall von meiner Seite, aber als er sah, dass ich stumm blieb, fuhr er ohne weitere Verzögerung fort.
»Aus diesem Grund schlage ich Ihnen Folgendes vor: Nehmen Sie sich sechs Monate Zeit, wenn nötig neun, eine Geburt ist immerhin eine Geburt, und ziehen Sie sich in Ihr Arbeitszimmer zurück, um den großen Roman Ihres Lebens zu verfassen. Wenn Sie ihn haben, bringen Sie ihn uns, und wir werden ihn unter Ihrem Namen veröffentlichen und dabei sämtliche Trümpfe ausspielen und alles auf eine Karte setzen. Weil wir auf Ihrer Seite sind.«
Ich schaute Barrido und dann Escobillas an. Die Giftige war drauf und dran, vor Ergriffenheit in Tränen auszubrechen.
»Natürlich ohne Vorschuss«, präzisierte Escobillas.
Euphorisch schlug sich Barrido die Faust in die Hand.
»Was sagen Sie nun?«
Noch am selben Tag nahm ich die Arbeit auf. Mein Plan war ebenso einfach wie wahnwitzig. Tagsüber würde ich Vidals Buch neu schreiben und nachts an meinem arbeiten. Ich würde sämtliche Schliche und Kniffe, die mir Ignatius B. Samson beigebracht hatte, zum Leuchten bringen und sie auf den Rest an Würde und Ehrbarkeit anwenden, der in meinem Herzen, wenn überhaupt, noch verblieben war. Ich würde aus Dankbarkeit, Verzweiflung und Eitelkeit schreiben. Ich würde vor allem für Cristina schreiben, um ihr zu beweisen, dass auch ich in der Lage war, meine Schuld bei Vidal zu begleichen, und dass David Martín, auch wenn er kurz davor war, tot umzufallen, das Recht hatte, ihr in die Augen zu schauen, ohne sich seiner lächerlichen Erwartungen schämen zu müssen.
Zu Dr. Trías ging ich nicht mehr. Ich sah keine Notwendigkeit darin. Wenn ich kein Wort mehr würde schreiben, ja denken können, würde ich es als Erster merken.
Ohne Fragen zu stellen, gab mir mein zuverlässiger, wenig skrupulöser Apotheker so viele Kodeinpralinen, wie ich verlangte, und ab und zu auch eine andere Köstlichkeit, die Feuer an die Adern legte und vom Schmerz bis zum Bewusstsein alles in die Luft sprengte. Über meinen Arztbesuch und die Testergebnisse sprach ich mit niemandem.
Meine Grundbedürfnisse deckte ich mit der wöchentlichen Bestellung bei Can Gispert, einem wundervollen Lebensmittelgeschäft in der Calle Mirallers hinter der Kathedrale Santa María del Mar. Die Bestellung war immer die gleiche und wurde mir von der Tochter des Inhabers ins Haus geliefert, einem jungen Mädchen, das mich anstarrte wie ein erschrockenes Reh, wenn ich sie im Vorraum zu warten bat, bis ich das Geld geholt hätte.
Читать дальше