»Wie kann ich Ihnen danken?«
»Zuerst einmal, indem Sie keine Zeit mehr verlieren. Sie haben rund dreißig Minuten, bevor Ihnen die ganze Abteilung auf den Fersen ist. Verschwenden Sie sie nicht.«
Ich ging mit dem Schlüssel zur Tür. Vor dem Hinausgehen wandte ich mich noch einmal kurz um. Grandes hatte sich auf den Tisch gesetzt und schaute mich ausdruckslos an.
»Diese Engelsbrosche«, sagte er und deutete auf sein Revers.
»Ja?«
»Die habe ich an Ihrem Revers gesehen, seit ich Sie kenne.«
Die Straßen des Raval waren Tunnel, deren Schwärze die flackernden Laternen kaum anzukratzen vermochten. Ich brauchte wenig mehr als die mir von Inspektor Grandes zugestandenen dreißig Minuten, um herauszufinden, dass es in der Calle Cadena zwei Wäschereien gab. In der einen, einer Höhle hinter einem dampfglänzenden Aufgang, waren nur Kinder mit violett verfärbten Händen und gelblichen Augen beschäftigt. Die zweite, ein schmutziger, nach Lauge stinkender Laden, von dem man sich nur schwer vorstellen konnte, dass dort irgendetwas sauber herauskam, wurde von einem Mannweib geleitet, das angesichts von ein paar Münzen unumwunden zugab, dass María Antonia Sanahuja sechs Nachmittage pro Woche dort arbeitete.
»Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?«, fragte sie.
»Sie hat geerbt. Sagen Sie mir, wo ich sie finden kann, vielleicht fällt was für Sie ab.«
Sie lachte, aber in ihren Augen blitzte Habgier auf.
»Soviel ich weiß, wohnt sie in der Pension Santa Lucía, in der Calle Marques de Barberá. Wie viel hat sie denn geerbt?«
Ich warf noch einmal einige Münzen auf den Ladentisch und verließ das schmutzige Loch, ohne eine Antwort zu geben.
Irene Sabinos Pension moderte in einem düsteren Haus vor sich hin, das aus ausgegrabenen Knochen und geklauten Grabsteinen zusammengebastelt schien. Die Briefkastenschilder im Erdgeschoss waren verrostet, und für die ersten beiden Stockwerke waren keine Namen angegeben. Der dritte Stock beherbergte ein Näh- und Konfektionsatelier mit dem hochtrabenden Namen Mediterran-Textil. Den vierten und obersten belegte die Pension Santa Lucía. Im Halbdunkel führte eine Treppe nach oben, auf der gerade eine einzige Person Platz fand, der Gestank der Abwasserleitungen sickerte durch die Wände und zerfraß den Anstrich wie Säure. Ich stieg die vier Stockwerke zu einem schrägen Treppenabsatz hinauf, auf den eine einzige Tür mündete. Ich klopfte mit der Faust an, und nach einer Weile öffnete ein Mann, der so groß und mager war wie ein Albtraum von El Greco.
»Ich suche María Antonia Sanahuja«, sagte ich.
»Sind Sie der Arzt?«, fragte er.
Ich schob ihn beiseite und trat ein. Die Wohnung war ein einziges Durcheinander von kleinen, dunklen Zimmern links und rechts eines Flurs, an dessen Ende ein Fenster auf einen Lichtschacht hinausging. Der Gestank der Rohrleitungen erfüllte die Luft. Der Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, offensichtlich ein Mieter, war auf der Schwelle stehen geblieben und beobachtete mich verwirrt.
»Welches ist ihr Zimmer?«, fragte ich.
Er schaute mich schweigend und verschlossen an. Ich zeigte ihm die Pistole. Ohne die Fassung zu verlieren, deutete er auf die letzte Tür des Korridors neben dem Lichtschacht. Sie war verschlossen, und ich begann mit aller Kraft am Türknauf zu rütteln. Die anderen Bewohner waren auf den Flur herausgetreten, ein Chor vergessener Seelen, die seit Jahren nicht mehr mit dem Sonnenlicht in Berührung gekommen zu sein schienen. Ich erinnerte mich an meine elenden Tage in Doña Carmens Pension, die mir jetzt wie eine Dependance des Hotel Ritz vorkam, verglichen mit diesem Purgatorium, einem von vielen im Gewimmel des Raval.
»Gehen Sie in Ihre Zimmer zurück«, sagte ich.
Niemand schien mich gehört zu haben. Ich hob die Hand mit der Waffe. Sogleich zogen sich alle wie verängstigte Nager zurück, mit Ausnahme des Ritters von der traurigen Gestalt. Ich konzentrierte mich wieder auf die Tür.
»Sie hat von innen abgeschlossen«, erklärte der Pensionsgast. »Sie ist schon den ganzen Nachmittag da drin.«
Unter der Tür drang ein Geruch heraus, der mich an bittere Mandeln denken ließ. Ich klopfte mehrmals mit der Faust an, ohne eine Antwort zu bekommen.
»Die Hauswirtin hat einen Hauptschlüssel«, sagte der Mieter. »Wenn Sie warten wollen… Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie kommt.«
Ich drängte ihn beiseite und warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Beim zweiten Angriff gab das Schloss klein bei. Sowie ich im Zimmer stand, überfiel mich der säuerliche, Übelkeit erregende Gestank.
»Mein Gott«, murmelte der Mieter hinter mir.
Der ehemalige Star vom Paralelo lag bleich und schweißbedeckt auf einer Pritsche. Als sie mich erblickte, verzogen sich ihre schwarzen Lippen zu einem Lächeln. Die Hände umklammerten das Giftfläschchen, das bis auf den letzten Tropfen geleert war. Der Blut- und Gallegestank ihres Atems erfüllte das Zimmer. Der Mieter hielt sich mit der Hand Nase und Mund zu und zog sich auf den Korridor zurück. Ich sah, wie Irene Sabino sich wand, während das Gift sie innerlich zerfraß. Der Tod ließ sich Zeit.
»Wo ist Marlasca?«
Sie schaute mich durch die Todestränen hindurch an.
»Er hat mich nicht mehr gebraucht. Er hat mich nie geliebt.«
Ihre Stimme war rau und gebrochen. Ein trockener Husten verursachte ein Geräusch in ihrer Brust, als würde etwas reißen, und einen Moment später trat ihr eine dunkle Flüssigkeit in den Mund. Mit ihrem letzten Lebenshauch schaute sie mich an, ergriff meine Hand und drückte sie kräftig.
»Sie sind verdammt, wie er.«
»Was kann ich tun?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ein neuer Hustenanfall ließ ihre Brust erbeben. Die Äderchen in den Augen platzten, und ein Netz blutender Linien breitete sich zu den Pupillen hin aus.
»Wo ist Ricardo Salvador? Liegt er in Marlascas Grab, in der Familiengruft?«
Irene Sabino schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten stumm ein Wort: Jaco.
»Wo also ist Salvador?«
»Er weiß, wo Sie sind. Er sieht Sie. Er hat es auf Sie abgesehen.«
Ich hatte den Eindruck, sie begann zu delirieren. Der Druck ihrer Hand wurde immer schwächer.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Er war ein guter Mensch. Ein guter Mensch. Er hat ihn verändert. Er war ein guter Mensch…«
Ein Geräusch von zerreißendem Fleisch kam aus ihrem Mund, und ihr Körper straffte sich in einem Muskelkrampf. Irene Sabino starb, die Augen auf meine geheftet, und nahm Diego Marlascas Geheimnis mit ins Grab. Jetzt blieb nur noch ich.
Ich bedeckte ihr Gesicht mit einem Laken und seufzte. In der Tür stand der Mieter und bekreuzigte sich. Ich sah mich um und versuchte, etwas zu finden, was mir weiterhelfen konnte, irgendeinen Hinweis, was ich als Nächstes tun sollte. Irene Sabino hatte ihre letzten Tage in einer fensterlosen Zelle von vier mal zwei Metern verbracht; ein Metallbett, auf dem jetzt ihr Leichnam lag, ein Schrank an der Wand gegenüber und ein Nachttischchen waren die einzigen Möbel. Unter dem Bett schaute, neben einem Nachttopf und einer Hutschachtel, ein Koffer hervor. Auf dem Nachttisch befanden sich ein Teller mit Brotkrumen, ein Wasserkrug und ein Stapel Postkarten, die sich bei genauerem Hinsehen als Heiligenbilder und Totenzettel von Beerdigungen entpuppten. Daneben lag in ein weißes Tuch gehüllt etwas, was wie ein Buch aussah. Ich wickelte es aus und fand das Exemplar von Die Schritte des Himmels , das ich Señor Sempere gewidmet hatte. Auf der Stelle verflog das Mitleid, das mir diese sterbende Frau eingeflößt hatte. Die Unglückliche hatte meinen besten Freund umgebracht, um ihm dieses verfluchte Buch zu entreißen. Da erinnerte ich mich an das, was mir Sempere das erste Mal gesagt hatte, als ich seine Buchhandlung betrat: Jedes Buch habe eine Seele, die Seele dessen, der es geschrieben habe, und die Seele derer, die es gelesen und von ihm geträumt hätten. Sempere war im Glauben an diese Worte gestorben, und mir ging auf, dass Irene Sabino auf ihre Weise ebenfalls daran geglaubt hatte.
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